© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Religion einer Eroberungsgemeinschaft
Der Kieler Islamwissenschaftler Lutz Berger über die politisch-historischen Wurzeln des von Mohammed gestifteten Glaubens
Gabriel Burho

Betrachtet man das Entstehen von Religionen abseits der Theologie wird schnell klar, daß sie in einem bestimmten soziokulturellen Kontext entstehen. In eben diesem Kontext bettet der Kieler Islamwissenschaftler Lutz Berger seine „Entstehung des Islam“ ein und bewertet sie aus dem Blickwinkel der Zeit und mittels historisch belegbarer Fakten. Ganz nebenbei behandelt er damit 500 Jahre Geschichte und Strukturwandel am Übergang von der Antike zum Mittelalter. 

Der Autor präsentiert das Bild einer Krisenzeit mit Hungersnöten und Epidemien, welche vor allem die urbanisierten Zentren des östlichen Mittelmeers heimsuchten. Gleichzeitig waren die Reiche der Region geprägt von religiösen Auseinandersetzungen um die richtige Lehre. Hier präsentiert Berger eindrucksvoll die innerchristlichen Lehrstreitigkeiten und die Versuche der Kaiser, diese zur Stabilisierung des Reiches beizulegen – auch um den Preis der Verfolgung christlicher Minderheiten.

Medinensische Suren sind teils nur Kriegspropaganda

Die beiden Großmächte der Zeit, Römer und Sassaniden, waren aufgrund ihres jahrhundertealten Konfliktes ausgeblutet und nahezu handlungsunfähig. Dazwischen lag die Arabische Halbinsel, das Niemandsland ohne eine größere staatliche Ordnung. Der Alltag der Stämme war bestimmt vom Krieg aller gegen alle. Die Götter des alten Arabien waren auf das Diesseits ausgerichtet, und die Menschen erwarteten sich keine jenseitigen Belohnungen oder ein Weiterleben nach dem Tod. Das Jenseits war bestimmt durch die alles vernichtende Zeit.

In diesem Rahmen wächst Mohammed in Mekka auf. Die Stadt ist einer der wichtigen religiösen Kultorte und ein Handelszentrum, das den jungen Mohammed auch in Kontakt mit jüdischen und christlichen Glaubensvorstellungen bringt. Auch „Allah“ wird, neben vielen anderen Göttern, in Mekka bereits verehrt. Diesem Gott wendet sich Mohammed zu und ruft seine Umwelt zum alleinigen Glauben an ihn auf. Für die meisten seiner Zeitgenossen waren seine „Versprechen des ewigen Heils, die Erlösungsreligionen ihren Anhängern machen“, kaum anderes als „absurder Unsinn“.

Da sein Aufruf zum Monotheismus in Mekka nicht viel Erfolg hat, verläßt Mohammed 622 seine Heimatstadt, um sich mit einigen Anhängern in Medina niederzulassen. Hier steigt er schnell zum politischen Führer der Gemeinde auf, und entsprechend sind die „medinensischen Suren“ des Koran geprägt von politischen Entscheidungen bis hin zu „einem guten Teil Kriegspropaganda“ und gleichen damit den Büchern des Alten Testamentes. 

Mohammeds Doppelfunktion als politischer Führer und Prophet bringt ein neues Element in die arabische Kriegslehre ein: Ideologie und die Lehre von jenseitiger Belohnung für das Kriegshandwerk. Daß das im Koran verfaßte religiöse Angebot des Propheten zunehmend Anhänger fand, lag nicht zuletzt auch an den schnellen militärischen Erfolgen der „Gläubigen“. Für die arabischen Stämme „lohnte“ sich der Einsatz für die neue Religion.

Mittels der neuen Religion als Klammer um die verschiedenen Stämme gelang die Befriedung Arabiens, die schnell in eine expansive Bewegung überging und der die kriegsmüden Römer und Perser wenig entgegenzusetzen hatten. Erleichtert wurden die Eroberungen durch den Umstand, daß viele der christlichen Gemeinschaften, die von der römischen Kirche unterdrückt wurden, die Araber sogar als Befreier wahrnahmen. Mohammeds Stamm von Gläubigen erkannte sich erst langsam selbst als eigenständige Religion, erst vom 7. Jahrhundert an bezeichneten sich seine Anhänger, im Gegensatz zu Juden und Christen, als Muslime. Es gelang den neuen Herrschern, die jeweilige Verwaltungselite in den eroberten Gebieten zu kooptieren. Oft erwies sich für sie die neue Obrigkeit „als profitabel“. Viele Juden und Christen behielten ihre Funktionen in der nur indirekten Herrschaft der Muslime, und der Dienst für die neuen Herren erwies sich als rentabel. 

Reifere Gesellschaft als im frühmittelalterlichen Europa

Während der Westen des Römischen Reiches ab 750 „zu einem Entwicklungsland geworden“ war, konnten hier römisch-griechische Traditionen weiterbestehen und sich weiterentwickeln. Nicht „die von den Muslimen eroberten Gebiete schieden aus der Welt der komplexen ‘zivilisierten’ Gesellschaften aus, sondern die Gegend im Nordwesten des Mittelmeers“.

Berger schildert in erster Linie politische Fakten und historische Abläufe und vernachlässigt dafür die theologischen Entwicklungen. Das ist besonders bemerkenswert, da er in Fragen der islamischen Theologie ebenfalls ein ausgewiesener Fachmann ist. Bevor der Islam eine „Universalreligion“ wurde, war er zunächst die „Religion einer Eroberungsgemeinschaft“ und wurde von seiner Umwelt auch entsprechend wahrgenommen. Dieses Faktum arbeitet Berger durch seine Fokussierung deutlich heraus. 

Bergers Buch ist kein politisches Buch, das sich, wie viele aktuelle Publikationen zum Thema Islam, an gegenwärtigen Phänomenen abarbeitet. Das macht es um so wertvoller, denn um die gegenwärtigen Probleme im und mit dem Islam zu verstehen, ist es unerläßlich, seine Geschichte und vor allem seinen Entstehungskontext zu kennen.

Lutz Berger: Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre. Von Mohammed bis zum Weltreich der Kalifen. C. H. Beck Verlag, München 2017, broschiert, 334 Seiten, Abbildungen, 26,95 Euro