© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Die Unfreiheit beschreiben können
Drei Autoren mit DDR-Hafterfahrung über das geistige Überleben unter widrigen Umständen
Siegmar Faust

Allein zum Zuchthaus Cottbus, dem bedeutendsten politischen Gefängnis der DDR ab Mitte der sechziger Jahre, soll es mehr als 130 Bücher geben, in denen ehemalige politische Häftlinge sich ihre zum Teil qualvollen Erlebnisse von der Seele geschrieben haben. Die wenigsten davon verstehen sich als Schriftsteller oder Dichter, zu denen etwa Raimund August, Gabriel Berger, Klaus Kordon, Utz Rachowski, Andreas Reimann, Axel Reitel, Thomas Reker, Andreas Schmidt, Jürgen Schmidt-Pohl, Peter Schnetz oder Gerald Zschorsch zu zählen wären. Doch die meisten Bücher stammen von anderen Intellektuellen, die in Cottbus zuhauf gesessen haben. 

Einer davon, der Leipziger Emeritus der Veterinärmedizin Franz-Viktor Salomon, hat ein umfangreiches autobiographisches Familienporträt verfaßt und als eine umfassende, bisher aber nur als Teil eins fertiggestellte „deutsche Erzählung“ herausgegeben. Er hat für diese den männlichen Vornamen „Lukas“ gewählt. Im Griechischen heißt das: der ins Licht Getretene. 

Obwohl er in einer systemkritischen Familie aufwuchs und in ihr immer der Hintergedanke im Raum schwebte, diese  Sowjetkolonie namens DDR in Richtung Westen verlassen zu wollen, zögerte er wie so viele – weil zuvor noch das Abitur zu absolvieren sei oder einem die Großeltern zu lieb waren. Bedingt durch die Karriere des Vaters, der es bis in ein Ministerium schaffte, mußte der Schüler oft die Schulen und den Freundeskreis wechseln. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb stellte Salomon seinem Buch das Motto voran: „Heimat ist, wo alles Bleibende seinen Anfang hatte.“

Das führt auch in eine Richtung, die der ebenfalls in Leipzig geborene Schriftsteller und schon zu DDR-Zeiten nach Ungarn emigrierte Übersetzer Hans-Henning Paetzke einmal so ausdrückte: „Staaten kommen und gehen, die Menschen und Städte bleiben, sie sind es, die mich interessieren, die Überlebensstrategien in einem übermächtig werdenden Staatsgebilde.“ Es ist kein Wunder, daß sowohl Salomon wie auch sein ebenfalls 1943 geborener Altersgenosse Paetzke mit diesen Sehnsüchten in der SED-Diktatur als politische Gefangene im Gefängnis landen würden. Dabei wurde Paetzke bereits als Schüler wegen „Verunglimpfung des Staatsoberhaupts“ Walter Ulbricht von sämtlichen Oberschulen der DDR verwiesen. Aber weder das „übermächtige Staatsgebilde“ noch die menschenunwürdigen Haftbedingungen haben beide – wie leider viele andere Haftkameraden – zu posttraumatisch belasteten Wracks werden lassen. 

Auch der erst 1955 in Thüringen geborene Pfarrersohn Christian J. Th. Koch, der 18 Monate bei der Nationalen Volksarmee und dann noch einmal ebenso lange im Zuchthaus Cottbus zu einer sozialistischen Persönlichkeit geschliffen werden sollte, beweist mit seinem kleinen Entwicklungsroman, „wie man auch in Gefangenschaft frei werden kann“. Koch, der bei einem Fluchtversuch über Ungarn geschnappt wurde, beschreibt präzise die ambivalente Situation eines Gefangenen in einer Diktatur: „Ich fühle mich stark, aber aus dem Spiegel blickt mir wieder ein Gesicht voller Angst entgegen.“ Das bringt er auf die Formel: „Erniedrigung und Freiheit!“ Dann fühlt er sich zunehmend freier, weil er in seiner Situation Worte findet, die auch den Schmerz klären können, den er spürte, als er von der Wartburg aus gen Westen blickte. Ausgerechnet im Knast fühlt er sich nun frei, weil er seine „Unfreiheit beschreiben kann“. Das ist die wirklich notwendige Kunst, in der unbequemen Situation die richtigen Worte zu finden, sich emotional nichts vorzumachen oder vormachen zu lassen. Klärung reinigt, tröstet, denn Klarheit bringt Vitamin D, also Licht ins Dunkel der Zelle. 

Lügen machen uns zu Komplizen von Verbrechern

Auch wenn Paetzke die DDR mit ihrem Ideologieterror immer verachtet hat, gelangte er nach seinen bösen Erfahrungen zu der Einsicht, daß gerade seine Auflehnung gegen das Regime seine Persönlichkeit geprägt und sein Leben bestimmt habe. Es wird nicht nur ironisch gemeint sein, daß der 1978 von der Bundesrepublik freigekaufte „Republikflüchtling“, der danach in Erlangen Theaterwissenschaft studieren konnte, sich dem überwundenen Mauerstaat sogar zu tiefem Dank verpflichtet fühlt. Was könnten Schriftsteller denn schon Großartiges berichten, wenn sie nicht etwas Gewaltiges, Lebensbedrohendes überwunden hätten? 

Gerade die vielen Möglichkeiten, die sich aus überwundenem Leid in einer kampflos zusammengebrochenen Diktatur ergeben, spiegeln sich in allen drei Werken der Autoren mit ihrer DDR-Hafterfahrung auf verschiedene Weise wider. Doch wer hat heute noch Lust, dicke Wälzer über ein in den Hintergrund getretenes zeitgeschichtliches Kapitel zu lesen? Das Problem sieht auch Paetzke. Viele Menschen seien nicht bereit, die Erinnerung in ihre Lebensstrategien einzubeziehen und verweigerten sich deswegen häufig der Geschichte. Dabei könnte Erinnerung wichtige Entscheidungshilfe leisten. Denn wer die Geschichten seiner Vorfahren ignoriert, kann der Gefahr erliegen, sie selber mit aller Bitternis wiederholen zu müssen.

Alle drei Werke sagen dem Leser: „Du hast es weitestgehend in der Hand, zu dem zu werden, der du werden möchtest oder kannst. Genetisch setzen wir das Leben unserer Ahnen fort, gesellschaftlich und geistig aber keineswegs. Es sei denn, daß wir die Familiengeschichte zu verdrängen versuchen, uns in ein Gespinst aus Lebenslügen hüllen. Solche Lügen machen krank und machen uns in übertragenem Sinn zu Komplizen von Verbrechern, vielleicht auch zu Komplizen der eigenen Biographie“ (Paetzke). 

Die Autoren, die in der Diktatur von der Stasi zu „negativ-feindlichen“ Personen abgestempelt worden waren und heute von manchen geschichtsblinden Linken sogar unter Rechtspopulismusverdacht stehen, weil sie aus ihren tiefgründigen Erfahrungen heraus linken Spinnereien nichts abgewinnen können, haben etwas zu bieten und weiterzuvermitteln, was vielen heute fehlt: ein besonderes Sensorium für die Freiheit – und jene gefährdenden Tendenzen.






Siegmar Faust, Jahrgang 1944, war von 1996 bis 1999 Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Sachsen. Der Schriftsteller wurde in der DDR aus politischen Gründen eingesperrt, darunter über zwei Jahre in Einzelhaft.

Franz-Viktor Salomon: Lukas – Eine deutsche Erzählung. Twenty-six-Verlag, Norderstedt 2017, broschiert, 656 Seiten, 22,99 Euro

Hans-Henning Paetzke: Andersfremd. Roman. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2017, broschiert, 368 Seiten, 14,95 Euro

Christian J. Th. Koch: Ohne Lüge leben – wachsen und reifen im Zuchthaus der Stasi. Komplett-Media, München 2015, gebunden, 205 Seiten, 19,95 Euro