© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Der Flaneur
Kulturelles Kapital
Josef Gottfried

Minusgrade, ein kräftiger Husten und der Geschmack des eigenen Auswurfs. Innerlich das Wägen, ob ich ihn schlucke oder auf dem Bahnsteig lasse – niemand sieht mich, so allein, wie ich hier bin. Gleichzeitig die Frage, ob man nun etwas Besonderes sei oder nicht. 

Der Bahnhof des Frankfurter Flughafens hat da eine klare Meinung und verschweigt sie nicht: Also bitte, lieber Mensch, bilde dir nichts ein, schau dir die Plakate an, die Auslagen in den Geschäften, die Zeitschriften; das alles kannst du wollen, das alles kannst du werden, du hast es aber nicht, und du bist es auch nicht. Funktioniere, sagt er, die Wegweiser sind eindeutig, es brächte auch wirklich nichts, sich hier zu verlaufen. Der Auswurf landet auf den Gleisen.

Zu dem großen Schwarzen scheint der Bahnhof in einem anderen Ton zu sprechen.

Ein hochgewachsener Schwarzer kommt hinzu und bleibt ein paar Meter weiter stehen. Er ist gut angezogen, trägt eine feine Ledertasche, ebenso gute Schuhe, steht gerade und schaut nicht in sein Smartphone. Alles an ihm scheint elegant und unprätentiös zu sein. Als er husten muß, tut er dies leise in seine Ellenbeuge hinein. Nun sind es mein Auswurf, der gerade auf den Gleisen gefriert, und sein diskretes Husten, die Hinweise auf unser kulturelles Kapital geben. 

Zu ihm scheint der Bahnhof in einem anderen Ton zu sprechen, wenn er denn überhaupt zu ihm spricht. Und falls er es doch täte, dann würde er das Bauwerk vielleicht gar nicht hören. So warten wir gemeinsam, er wohl in der Stille, ich in einem nicht enden wollenden Monolog der mächtigen Ingenieurskunst.

Dann schaut er auf die Uhr und vergleicht sie mit seinem Reiseplan, den er aus einem Umschlag holt, den er aus seiner Manteltasche gezogen hat. Er kommt zu mir und fragt auf englisch, ob denn der ICE nach Kassel schon gekommen sei. Sitzend muß ich zu ihm aufschauen und verneine, der sollte aber bald da sein, sage ich, und er bedankt sich wirklich sehr nett.