© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/18 / 12. Januar 2018

In der Zwinge von Sprechcodes
Der Staatsrechtslehrer Ingo von Münch beklagt die von der Political Correctness bedrohte Meinungsfreiheit
Konrad Adam

Unter den vom Grundgesetz garantierten Bürgerrechten nimmt die Meinungs- und Informationsfreiheit einen bevorzugten Platz ein.  Aus gutem Grund, denn ohne das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, läuft die Demokratie leer. Wo die öffentliche Meinung gelenkt, unterdrückt oder gepeitscht wird, gehen der Politik die Alternativen aus, sie wird einfallslos, bequem und selbstgefällig. Bewegung, Aufbruch und Reformen werden unentwegt versprochen, kommen aber nicht zum Zuge, weil sie auf ein stupides „Weiter so!“ hinauslaufen. Ein „Weiter so!“, das niemand will. 

Fragwürdige Vorgaben  bestimmen Meinungsklima

Ingo von Münch, Staatsrechtslehrer und einige Jahre lang Senator für Kultur und Wissenschaft in Hamburg, zeichnet den Weg nach, auf dem das erste und wichtigste von allen Grundrechten mißachtet und ausgehöhlt, entstellt und bekämpft wird. Leider erfolgreich, wie man mit Blick auf das Kartell aus Politik und Medien einräumen muß, das mit seinen fragwürdigen Vorgaben das Meinungsklima bestimmt. Weit entfernt davon, Anstoß zu erregen, kommt es mit seinen Sprechverboten beim Publikum gut an. Die alte Klage, daß die Deutschen den Wert der Freiheit weder durch ihren Genuß noch durch ihre Entbehrung kennengelernt haben, bestätigt sich täglich.

Eine große Koalition aus Parteien und Verbänden, Chefredakteuren, Sozialwissenschaftlern und Kirchenpräsidenten tut es den US-Amerikanern nach, die sich und andere unter dem Ruf nach Political Correctness zur öffentlichen Lüge verpflichtet fühlen. Ihr speech code sieht vor, daß weder die Tat noch der Täter, sondern der oder die Betroffene darüber entscheiden, ob gegen die mehr oder weniger guten Sitten verstoßen worden ist. „Der Angeklagte ist schuldig, wenn der Ankläger glaubt, daß er schuldig sei“, heißt das Dogma des modernen Blockwarts: eine Neuauflage der Heiligen Inquisition, die nach demselben Grundsatz verfahren ist. 

Wenn Ankläger und Richter identisch sind, kann man kurzen Prozeß machen. Macht man ja auch, wie der Autor anhand zahlreicher Beispiele aus jüngster Zeit nachweist. Angesichts der Folgenlosigkeit, mit der das Grundgesetz von der Regierung selbst umgangen oder  verhöhnt wird, wirkt sein Versuch, der Meinungsfreiheit im Wege von Recht und Gesetz wieder aufzuhelfen, allerdings ebenso sympathisch wie hilflos. Was tun gegen einen Justizminister, der ein Gesetz auf den Weg bringt, das die Meinungsfreiheit kastrieren soll? Oder gegen ein Parlament, das ihm dabei auch noch zu Diensten ist?

Die Rechtsordnung kann eine ins Rutschen geratene Werteordnung nicht wiederherstellen, sie kann sie allenfalls verteidigen und schützen. Mehr zu tun, wäre Sache der Politik; aber die weicht aus. Exemplarisch die Suada, mit der der grüne Oberbürgermeister von Freiburg Dieter Salomon auf den Mord reagierte, dem eine junge Frau zum Opfer gefallen war. Um nicht gegen den Sprechcode zu verstoßen, der verlangt, Flüchtlinge durchweg als Schutzbefohlene zu bezeichnen, wagte er nicht, von Mord zu reden. Stattdessen beklagte er, betont unpersönlich, das gestörte Sicherheitsgefühl und äußerte die Hoffnung, daß die Stimmung nicht kippt „und sich gegen Flüchtlinge richtet“.

Soll man es den Leuten verdenken, wenn sie das Vertrauen in eine Politik verlieren, die nach der Freiheit auch noch die Sicherheit verspielt? Der Autor klingt ein wenig zweifelnd, wenn er im Vorwort schreibt: „Die Verfassung gilt – oder?“ Die Antwort gibt er dann selbst mit Fragen wie diesen: Ob die Kanzlerin ohne gesetzliche Grundlage und ohne Parlamentsbeschluß die Grenzen öffnen durfte? Ob es realistisch ist, die Kosten für die unkontrollierte Einwanderung auf nur zwanzig bis dreißig Milliarden jährlich zu beziffern? Ob die Mitgliedstaaten der EU auch gegen ihren Willen dazu verpflichtet werden können, Orts- und Kulturfremde bei sich aufzunehmen und dauerhaft zu versorgen? Und was dergleichen Fragen mehr sind.

Sprach- und Gesinnungs-polizisten bloßstellen

Die Antwort ist klar: Nein, die Verfassung gilt nicht mehr, Angela Merkel hat sie außer Kraft gesetzt. Daß alles Wichtige vom Parlament beschlossen werden muß, steht so im Grundgesetz, ist obendrein auch noch vom Verfassungsgericht mit seiner eigens dazu entwickelten Wesentlichkeitstheorie bekräftigt worden. Dennoch hat Frau Merkel so gut wie alles Wesentliche angeordnet, ohne den Bundestag auch nur zu fragen. Und statt dagegen aufzubegehren und ihre Rechte einzuklagen, haben die Abgeordneten stillgehalten und sich beeilt, alles Wesentliche an irgendwelche Sechser- oder Neunerausschüsse zu delegieren.

Was tun, wenn das Parlament kneift und die Rechtsordnung lahmt? Dann müssen die Bürger selbst einspringen und die Sprach- und Gesinnungspolizisten bloßstellen. Schwer ist das nicht, weil ein Sprechcode etwas für die Armen im Geiste ist. Er macht das Reden ohne nachzudenken möglich, ersetzt das Argument durch die Empörung, die deshalb so beliebt ist, weil sie auch dem Schwachsinnigen erlaubt, sich öffentlich in Szene zu setzen.

Ingo von Münch: Meinungsfreiheit gegen Political Correctness. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2017, broschiert, 165 Seiten, 19,90 Euro