© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/18 / 12. Januar 2018

Zuckerbrot und Peitsche
Über das Studieren in der DDR berichtet ein Sammelband: Die erfolgreiche Ausbildung eines akademischen Mitläufertums im SED-System
Paul Leonhard

Es ist wohl einmalig in der europäischen Geschichte, daß die Studentenschaft nicht zu den Triebkräften einer Revolution gehörte und eher als Gegenkraft in Erscheinung trat. So traten die Studenten der Karl-Marx-Universität Leipzig und die der Pädagogischen Hochschule Dresden als Gegendemonstranten auf dem Augustusplatz beziehungsweise bei der historischen Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl vor der Ruine der Frauenkirche auf, schreibt der sächsische CDU-Politiker und frühere Kultus- und Wissenschaftsminister Matthias Rößler in seinem Beitrag für den Sammelband über „Studieren in der DDR“.

Wie es dazu kam, daß ein Großteil der Studentenschaft dem Sturz des SED-Regimes passiv zusah und so die friedliche Revolution in der DDR zur „Angelegenheit der kleinen Leute“ (Rößler) wurde, wird in der 552 Seiten starken Schrift deutlich, die Erinnerungsberichte von mehr als siebzig Zeitzeugen aus den 50er bis 80er Jahren vereint, die primär an Dresdner Hochschulen studiert haben.

Tagtäglich vielen kleinen Repressionen ausgesetzt

Letzteres erklärt sich daraus, daß das Buchprojekt im Ergebnis der Tagung „Politisch motivierte Urteile und andere Formen der Repression gegen Studenten der TH/TU Dresden in der DDR“ entstand, die 2009 in der Elbestadt stattfand. In der Diskussion sprach der damals noch lebende DDR-Stararchitekt Günter Franke, der von 1962 bis 1968 an der TU Dresden studiert hatte, die sehr emotionalen Worte: „Hier wird immer nur über die großen Fälle gesprochen und nicht über die vielen kleinen Repressionen, denen wir damals täglich ausgesetzt waren.“

Als Resultat wurden Absolventen gebeten, aufzuschreiben, was ihrer Meinung nach gut am Studium in der DDR war und worauf man hätte verzichten können. „Wir stießen auf Humor, interessante Details zum Studium und zu Rahmenbedingungen des studentischen Lebens, jedoch auch auf Zwänge und Repressionen, die heute noch sehr nachdenklich stimmen müssen“, schreiben die Herausgeber Günter Knoblauch und Rainer Jork. Wer sich die Mühe macht, die teilweise sehr unterschiedlichen Erfahrungsberichte zu lesen, bekommt einen Einblick in die perfide Einschüchterungspolitik der SED gegenüber dem akademischen Nachwuchs. Die Einheitssozialisten hatten früh erkannt, daß es ihnen nicht gelingen würde, die technische und naturwissenschaftliche Intelligenz politisch zu vereinnahmen und setzten geschickt auf „Zuckerbrot und Peitsche“.

Matthias Lienert, Studienjahrgang 1979 an der Humboldt-Universität Berlin, beschreibt, wie er in einer für ihn brenzligen Situation „nur geringe und vorsichtige Solidarität, selbst bei nahestehenden Menschen und Leuten, die der DDR eher ablehnend gegenüberstanden“, erfuhr. Der spätere Diplom-Archivar zog daraus wie viele den Schluß, „daß es sich nicht lohnt, sich mit der sozialistischen Staatsmacht absichtlich oder unabsichtlich anzulegen“. Mit welcher Akripie Hochschulleitung, Staatssicherheit, Ministerien und auch Nationale  Volksarmee zusammenarbeiteten, um zu verhindern, daß „politisch unzuverlässige Elemente“ trotz hervorragender fachlicher Eignung eine Studienzulassung erhielten, erfuhren viele der Betroffenen erst nach der Wende aus ihren Stasiakten.

Parallel dazu versuchte das „alteingesessene Bildungsbürgertum, den zugezogenen roten Herren und ihren Günstlingen zu widerstehen“, wie Wolfgang Friese in seinem Bericht schreibt. Hochschullehrer der mittleren Ebene waren es, die ihre Beziehungen spielen ließen, um in Ungnade gefallene Studenten vor der Exmatrikulation zu bewahren oder sie über den Job als Hilfsassistent finanziell zu unterstützen. Wer von den einst das System hinterfragenden jungen Menschen schließlich allen Anfeindungen zum Trotz sein Diplom in der Tasche hatte, zog es vor, sich fortan in einer Nische der volkseigenen Industrie einzurichten. Daß diese Akademiker der Revolution häufig skeptisch gegenüberstanden, erklärt Lienert am Beispiel der Studenten aus den achtziger Jahren, die, letztlich fachlich hervorragend ausgebildet, „die realen politischen Verhältnisse als gegeben hinnahm“ und „damit objektiv auch Träger und Mitläufer des dem Untergang geweihten politischen Systems war“.

Rainer Jork, Günter Knoblauch (Hrsg.): Zwischen Humor und Repression. Studieren in der DDR. Zeitzeugen erzählen. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2017, broschiert, 552 Seiten, 19,95 Euro