© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/18 / 19. Januar 2018

Geburt aus dem Geist der Gewalt
Gedenkjahr 2018: Zwei kontroverse Deutungen zur Geschichte der Novemberrevolution
Oliver Busch

Wolfgang Niess, Leitender Redakteur beim SWR Fernsehen, will mit seinem Buch über die Novemberrevolution 1918/19 vier Legenden zerstören. Zuerst die heute eher marginale Ansicht, der Umsturz sei überflüssig gewesen, weil die lange von bürgerlicher Mitte und Sozialdemokratie geforderte demokratische Reform der monarchischen Reichsverfassung, vor allem die Einsetzung eines parlamentarischen Regierungssystems, Ende Oktober 1918 Realität war. 

Zweitens glaubt Niess widerlegen zu müssen, was immer noch durch „manche Geschichtsbücher“ spuke, die Legende von der Republik, die im Winter 1919 als Bollwerk eine spartakistisch-bolschewistische Despotie verhindert habe. Eng hänge damit die dritte Legende zusammen, der zufolge ein Bündnis zwischen SPD und den Resten der kaiserlichen Armee nötig gewesen sei, um nicht Richtung Sowjet-Deutschland abzugleiten, sondern die Weichen in Richtung einer Demokratie westeuropäischen Zuschnitts zu stellen. Viertens schließlich, und diese Legende gehörte bis 1989 zum Staats- und Geschichtsverständnis des SED-Regimes, habe ihre  Allianz mit den monarchischen Eliten die Revolution nicht „verraten“, da die auf Reform eingeschworene Arbeiterpartei SPD kein Ziel „verraten“ konnte, das sie gar nicht erreichen wollte: die Herrschaft der Räte und die Diktatur des Proletariats.

Was Niess hier im Gestus des Drachentöters ankündigt, gleicht dann auf 450 Seiten einem Kampf gegen Windmühlen, da jedes dieser Deutungsmodelle bereits von der zeithistorischen Forschung verabschiedet worden ist. Diese favorisiert stattdessen heute eine Synthese aus den ziemlich abgespeckten Legenden zwei bis vier. Demnach existierte in den Monaten des revolutionären Umbruchs nie die ernsthafte Gefahr einer bolschewistischen Machtergreifung nach dem Muster Lenins. Deshalb war der von Ebert, Scheidemann und Noske gesuchte Schulterschluß mit den Generalen wenn nicht unnötig, so doch, mit Blick auf die dadurch zwangsläufig explodierende militärische Gewalt, unnötig eng. Hätte die SPD sich also nicht von den Militärs in einen bürgerkriegsähnlichen Kampf  gegen das „Schreckgespenst“ Bolschewismus treiben lassen, wäre ihr Handlungsspielraum größer gewesen, den sie hätte nutzen können, um mehr demokratischen Sozialismus, vor allem in Wirtschaft und Verwaltung, durchzusetzen.

Exakt bei dieser „herrschenden Meinung“ landet der Autor, wahrlich kein analytischer Kopf, nachdem er die Gründungsgeschichte der Republik vom Waffenstillstand bis zum Kapp-Putsch, dem Ende der revolutionären Ära im März 1920, brav, einschläfernd und keine Platitüde scheuend memoriert hat, ohne ihr die kleinste neue Erkenntnisnuance abzupressen. Allein die geschichtspolitische Emphase, zu der sich Niess abschließend hinreißen läßt, unterscheidet ihn von der desillusionierten Historikerzunft, die, wie noch in den 1970ern, keinen volkspädagogischen Honig mehr aus dem Stoff saugen mag. Niess hingegen hält es im Gedenkjahr 2018 für höchste Zeit, daß sich die Bundesrepublik, die doch mit Hilfe der Sieger von 1945, „manches von dem, was in den Revolutionsmonaten 1918/19 unterblieben ist“, vollendet und sich mit „demokratischem Geist“ erfüllt habe, als Verwirklichung dessen begreife, was die Revolutionsbewegung „vor Augen hatte“. 

Erstaunlich, wie naiv ein „leitender“ Journalist sein kann. Das Gedenkjahr wird zeigen, daß Niess, geboren 1952, mit seinem anachronistischen, eher in die Willy-Brandt-Ära („Mehr Demokratie wagen“) passenden Versuch, die Bundesrepublik in der deutschen Demokratiegeschichte zu verankern, ohne nennenswerte Resonanz bleibt. Denn dieses System befindet sich – 29 Jahre nach der Wiedervereinigung alle mit der Vergangenheit verbindenden Trossen kappend – mitten in einer beispiellosen, von 80 Prozent der Wählerschaft akzeptierten Transformation weg vom homogenen demokratischen Nationalstaat, hin zum multikulturellen Vielvölkergebilde, für das die deutsche Geschichte und Kultur nur noch abzuwerfender Ballast ist.

Nur eine weitere Variation der „Verrats“-Legende

Solchem Bedürfnis nach Geschichts-entsorgung kommt daher eine andere, rechtzeitig im Mai 2017 auf den Buchmarkt geworfene Darstellung Weimarer Geburtswehen weitaus mehr entgegen. Ihr Autor, Mark Jones, ein angelsächsischer Historiker des Jahrgang 1981, stellt schon im Titel klar, daß die Geschichte der Weimarer Republik nicht zur Identifikation einlädt, weil sie schwer belastet ist: mit „Gewalt“. Und wie einst  in der Legende von der „verratenen Revolution“, ist es ausgerechnet wieder die gute alte SPD, die daran schuld sein soll. 

Im Kern ist Jones’ von ihm hochstapelnd so genannte „erste eingehende historische Analyse der blutigen Gewalt 1918/19“ sogar nichts weiter eine Variation der „Verrats“-Legende. Denn auch bei ihm lautet die Anklage, daß sich die SPD im Machtkampf gegen die USPD und deren Linksflügel, die Spartakusgruppe um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Keimzelle der KPD, bedingungslos den „Gewaltexperten“ der alten Armee ausgeliefert habe, die in Berlin und München Aufstände gegen die Republik in Strömen von Arbeiterblut erstickt hätten. 

Jones’ Argumentation endet jedoch nicht damit, der SPD abermals vorzurechnen, welche sozialpolitischen Terrainverluste sie mit ihrer voreiligen Entscheidung zu verantworten hat, den Beistand der Feldgrauen zu suchen und die Republik mit Waffengewalt zu gründen. Ihm geht es vielmehr um das beliebte geschichtsklitternde Spiel, schräge Kontinuitäten zu erfinden. Die SPD belädt er daher nicht mit Schuld, weil sie infolge ihrer Bindung ans Militär und an dessen konservativ-reaktionäres Umfeld nach rechts einknickte, sondern weil sie die deutsche „Gewaltkultur“ zur Leitlinie ihrer Politik erhob. Damit habe die SPD-Führung einen „entscheidenden Schritt auf dem Weg zu den Schrecken des Dritten Reiches“ getan, sei mithin Wegbereiterin des Nationalsozialismus. Nicht nur den demokratischen Sozialismus, sondern, viel schlimmer, das kosmopolitische „Ideal einer Gemeinschaft aller Menschen“ habe die SPD „verraten“. Ein Ideal, so ist mitzulesen, wie es nun in der Bundesrepublik, der ersten Satrapie der nahenden Weltbürgerrepublik, mit unterwerfungsseliger Hingabe gepflegt wird. 

Die Aporien, die sich Jones mit diesem Hypermoralismus aufhalst, nehmen seine methodisch an Carlo Ginzburgs „Mikrohistorie“ orientierten, aus Archivquellen und einem ansehnlichen Fundus zeitgenössischer Presseartikel schöpfenden Arbeit jede Evidenz. Deshalb muß er sich bei allen zu Recht angeprangerten „Gewaltexzessen“, begangen von üblen Verbrechertypen in Uniform, fortwährend selbst fragen: Mit welchen realistischen Mitteln wären die von ihm akribisch recherchierten „Gründungsmassaker“ in derartig existentiellen „Freund-Feind“-Konstellationen denn zu verhindern gewesen? Eine Antwort findet Jones nicht. 

Wolfgang Niess: Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie. Europa Verlag, Berlin 2017, gebunden, 463 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

Mark Jones: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik. Propyläen Verlag, Berlin 2017, gebunden, 432 Seiten, Abbildungen, 26 Euro