© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/18 / 19. Januar 2018

Ein schwer beschädigtes Land
Im Makrokosmos der politischen Kultur: Gabriele Baring über die angeknackste Psyche der Deutschen
Thorsten Hinz

Die Titelfigur aus dem Loriot-Klassiker „Pappa ante portas“, Heinrich Lohse geheißen, ist 59 Jahre alt. Seit 37 Jahre ist er bei der Deutschen Röhren AG beschäftigt und hat es bis zum Einkaufsdirektor mit Dienstwagen und Chauffeur gebracht. Weil seine Pedanterie zuletzt für Chaos gesorgt hat, wird er in den Ruhestand versetzt. Er hat nun Zeit und Muße, seine Familie unter dem Vorwand der Fürsorge und planenden Vorausschau zu tyrannisieren. Für die Berliner Psychotherapeutin Gabriele Baring ist Lohse-Loriot nicht einfach ein skurriler Filmheld. Er ist ein ins Humoristische gewendete Repräsentant der deutschen Kriegskinder-Generation.

Auf diese Deutung muß man erst einmal kommen, obwohl sie doch so naheliegt: Da der Film 1991 in die Kinos kam, muß Lohse um 1930 geboren worden sein. Folglich hat er als Kind und Jugendlicher die Bombennächte, Flucht und Vertreibung, Hunger und Not erlebt. Der Vater ist womöglich gefallen, Mutter vergewaltigt worden. Zur Ausheilung seiner Posttraumatischen Belastungsstörungen hat er keine Zeit gehabt. Von Anfang an hat er am Wirtschaftswunder mitgewirkt und ist durch Fleiß, Disziplin und Zuverlässigkeit zu Wohlstand und Ansehen gekommen. 

Doch unter dem Korsett der Pflicht-erfüllung und Autorität hat das unbewältigte Leid an seiner Seele genagt, hat ihn unsicher und ängstlich gemacht. Die Anspannung entlädt sich in kleinlichen Alltagsaggressionen, die das Publikum zum Lachen bringen. Das Lachen bedeutet eine kleine Katharsis. Offenbar erkennen viele Zuschauer sich oder einen Angehörigen in Heinrich Lohse wieder. Nicht ohne Grund gehört „Pappa ante portas“ zu den großen Kino- und TV-Erfolgen und wird alle Jahre wieder um die Weihnachtszeit ausgestrahlt.

Für Gabriele Baring stellen die karikierten Verhaltensweisen neben dem persönlichen auch ein politisches Problem dar, denn: „Was den einzelnen krank macht, wiederholt sich im Makrokosmos der politischen Kultur.“ Die Belastungen und Schwierigkeiten, die Deutschland mit Inbrunst auf sich zieht und die mit der Grenzöffnung 2015 nochmals eskalierten, die diskursiven Dauerschleifen und manischen Selbstgeißelungen, sie sind mindestens ebensosehr medizinisch wie politisch zu begreifen. 

Für die Autorin ist Deutschland ein in seiner Identität und Psyche schwer beschädigtes Land, das unter Realitätsverlust und Autoaggression, unter Selbsthaß und Handlungsschwäche leidet. Seine oft irrationalen Reaktionen erwecken sogar den Eindruck eines „gefühlsgeleiteten Hippiestaates“, wie der britische Historiker Anthony Glees im Herbst 2015 formulierte. Man kann es auch so sagen: Die jubelnden Menschen, die beim Eintreffen der Refugee-Züge mit Kußhänden und Teddybären um sich warfen, waren die mißratenen Kinder und Enkel von „Pappa ante portas“. 

Die gestörte Identität ist eine verschleppte Folge des Zweiten Weltkriegs. Die Eltern konnten ihren Kindern nicht die nötige Stabilität mitgeben. Diese erlegten sich zur Selbststabilisierung einen ungeheuren Leistungsdruck auf, der bei den Enkeln zu Depressionen, Hyperempfindlichkeit und neuen Aggressionen führt. Baring überträgt den „Gefühlsstau“, den der Psychoanalytiker Joachim Maaz bei den DDR-Bürgern diagnostizierte, auf ganz Deutschland und ergänzt ihn um das „Amfortas-Syndrom“. 

Gemeint ist die nicht gestellte Frage nach dem Grund des Leidens, nach der Kriegswunde, was dazu führt, daß der Schmerz sich fortzeugt: „Die Angst, der Verlust, die nicht zugelassene Trauer, das Wissen um das gesamte Schicksal der Ahnen – alles wird vererbt.“ Das Ergebnis ist eine „vaterlose, beziehungsunfähige Gesellschaft, deren Grundmotiv die Angst vor Verlust und Verlassenwerden ist“. Hinter der Betonung von Spontanität und Individualität als Lebensideal verbirgt sich die Unfähigkeit, im Innern einen Ausgleich zu finden, das Mißlungene ebenso als Teil des Lebens zu akzeptieren wie gelungenes Glück und damit aus kindlichen Erwartungshaltungen hinauszuwachsen. 

Kollektives Beschweigen der eigenen seelischen Not

Zur Blockade dieser menschlichen wie politischen Reifeprozesse beigetragen hat auch das Mitscherlich-Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“. Die Autoren meinten ausschließlich die Trauer um die Opfer des Nationalsozialismus, nicht die um die eigenen Familienangehörigen und Verluste. Die Kehrseite der sogenannten Vergangenheitsbewältigung war und ist ein großangelegtes kommunikatives Beschweigen der eigenen seelischen Not.

Manche Thesen und Gedanken werden dem Leser vertraut vorkommen. Gabriele Barings Buch hat aber den Vorzug, daß viele Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis darin eingegangen sind, die ihre theoretischen Modelle anschaulich illustrieren. So weiß man beispielsweise nicht, ob man lachen oder weinen soll über den Fall des Familienvaters, der jahrelang Frau und Kinder terrorisiert, weil er regelmäßig vor dem Mittagessen den Müll entsorgt, so daß die Speisen erkalten. Auch in dem Fall stellt sich heraus, daß die Manie auf frühkindliche Kriegserfahrungen zurückgeht.

Baring analysiert auch Vertreter der politischen Klasse: neben der nagelkauenden, kinderlosen Angela Merkel Politiker, die vaterlos aufgewachsen sind oder durch Krieg oder Gefangenschaft den Vater in der Kindheit vermißten und dessen Rolle ersetzen mußten. Das führte zu überzogener Härte, zu Unausgeglichenheit, einem verinnerlichten Freund-Feind-Denken. Im Schimpfwort „Pack“, mit dem Sigmar Gabriel die Kritiker der Asylpolitik bedachte, offenbarte sich das Flüchtlingskind, das sich in einem abweisenden Milieu durchbeißen mußte und auf Angriffe mit doppelter Aggressivität antwortete.

Symbolisch für die kollektive „Ausgrenzung der Vergangenheit“ steht die Diabolisierung Hitlers, der aus der menschlichen Welt faktisch verbannt wird. Wieviel überzeugender ist doch die Deutung Thomas Manns, der in dem Aufsatz „Bruder Hitler“ die Faszination, die der Diktator ausübte, damit erklärt, daß er neben „schlechten“ auch „gute“ Anteile besaß. Die Leugnung dieser Anteile und die Herauslösung Hitlers aus der geschichtlichen Kontingenz verletzt die natürliche Ordnung, die sich für den Frevel rächt: Die medialen Teufelsandachten, die heute nahezu täglich für den Führer abgehalten werden, bezeugen die unbewußte Identifikation mit ihm. Bekanntlich war es Hitlers letzter Wunsch, Deutschland mit sich in den Abgrund zu ziehen. Tatsächlich steht es heute am „Rand der Selbstaufgabe“, so Gabriele Baring. Was sie als „Abspaltung“ beschreibt, ist das psychologische Gegenstück zur blockierten Historisierung der NS-Zeit. Man erinnere sich nur an den Aufruhr, den Ernst Nolte mit der Forderung nach „Gerechtigkeit für Hitler“ und mit der zur Diskussion gestellten „Größe und (...) Tragik des Nationalsozialismus“ auslöste.

Neuere Forschungen zeigen, daß biographische Erschütterungen sich in die genetische Matrix einschreiben, also erb-lich sind. Jedoch sind sie therapierbar, wenn man sie denn identifizieren kann. Das aber wird mit fortschreitender Reproduktionsmedizin immer schwieriger. Kinder, die aus dem Erbgut eines unbekannten Elternteils gezeugt werden, werden niemals wissen, welche Nöte, Erfahrungen, Programmierungen ihnen mitgegeben sind. Der Loriot, dem darüber kathartische Späße gelingen, muß erst noch gefunden werden. Das Buch von Gabriele Baring ist erhellend – und alles andere als beruhigend. 

Gabriele Baring: Die Deutschen und ihre verletzte Identität. Europa Verlag, Berlin 2017, gebunden, 312 Seiten, 19,90 Euro