© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

Der Rest ist Poesie
Mit dem Buch „Die selbstbewußte Nation“ sollten Begriffe neu besetzt werden: Die Hoffnung auf eine Kehre schwand rasch
Thorsten Hinz

Der „Anschwellende Bocksgesang“ hatte einen zeitdiagnostischen Anspruch, doch die Redeweise war poetisch, also assoziativ, bildhaft, mehrdeutig; der Tonfall war erhaben. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“, heißt es bei Hölderlin, und Stefan George deklamierte nach der Niederlage von 1918: „Der Sänger aber sorgt in Trauerläuften / daß nicht das Mark verfault, der Keim erstickt“! So entsprach es gut deutscher Tradition, daß der Schriftsteller Ulrich Schacht und der Publizist Heimo Schwilk das Dichterwort von Botho Strauß zum Ausgangpunkt des politischen Manifests „Die selbstbewußte Nation“ wählten und den Text an seine Spitze stellten.

Das Buch erschien im Herbst 1994 im Ullstein-Verlag. Die Herausgeber, hauptberuflich Welt-Redakteure, hatten 28 mehr oder weniger nonkonforme Autoren versammelt, die aus unterschiedlichen Perspektiven ihre Gedanken zur Lage in Deutschland darlegten. Im Vorwort interpretierten Schacht und Schwilk die Wiedervereinigung als ein „geschichtsgerichtliches Revisionsverfahren gegen die Status-quo-Verwalter“. Diesem Prozeß müsse jetzt „geistige Anerkennung“ verschafft werden. Brigitte Seebacher-Brandt, die Witwe des langjährigen SPD-Vorsitzenden, meinte, die Erfahrung von 1989/90 stelle „alles auf den Kopf, was vorher gültig gewesen“ sei. Die gültigen und einzigen Grundideen der Bundesrepublik, so der Philosoph Reinhart Maurer, seien „die einzigartige Schuld“ und der „Wohlstand für viele“. Die Konfliktlinie war markiert, der Kampf angesagt.

Das Buchprojekt war Teil der Publikationsstrategie, die der Berliner Historiker Rainer Zitelmann seit längerem entfaltete. Zitelmann war eine Zeitlang in Personalunion Leiter des Welt-Feuilletons und Cheflektor des Ullstein-Verlags gewesen. Seine strategische Position nutzte er für den Versuch, auf breiter Front die Begriffe neu zu besetzen und den Boden für eine „demokratische Rechte“ zu bereiten, die sich abgrenzte sowohl von der „extremen Rechten“ wie von den Liberalkonservativen in der Union, die sich die Tagesordnung von der Linken diktieren ließen. 

Als Dregger zurückzog, war das Potential erschöpft

Der Historiker Michael Wolffsohn schrieb über „Nationalstaat und Multikultur“; Karlheinz Weißmann skizzierte eine globale Lageanalyse; Ernst Nolte referierte über die Geschichte und Aktualität der Begriffe links und rechts; Hans-Jürgen Syberberg dachte „über den Verlust des Tragischen“ und den „Hoch- und Landesverrat der Kunst“ nach.

Das Echo war ungeheuer und hysterisch. Doch Botho Strauß stand zu dem Buch, das in rascher Folge drei Auflagen erlebte. Schacht, Schwilk und Zitelmann, die in den Medien nun als Dreierbande gehandelt wurden, veranlaßten im April 1995 in der FAZ die Anzeige „Gegen das Vergessen“. Sie erinnerte daran, daß der 8. Mai „nicht nur das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft bedeutete, sondern auch den Beginn von Vertreibungsterror und neuer Unterdrückung im Osten und den Beginn der Teilung unseres Landes“. Auch diese Aktion wurde als Skandal empfunden. Den Höhepunkt sollte am 8. Mai 1995 eine Veranstaltung in den Münchner Kammerspielen mit dem nationalkonservativen CDU-Granden Alfred Dregger bilden. Als Dregger sich nach massivem Druck aus Parteikreisen zurückzog, wurde die Kundgebung abgesagt.

Das politisch-operative Potential des „Bocksgesangs“ hatte sich damit erschöpft. Die Hoffnung, in seinem Windschatten eine anschlußfähige Rechte zu etablieren, schwand sehr rasch. Dieses Scheitern hatte Günter Maschke 1987 im Aufsatz „Sterbender Konservatismus und die Wiedergeburt der Nation“ vorweggenommen. Mit Ernst Jüngers Worten klassifizierte er die Bundesrepublik als „späte Demokratie“: „In diesem Zustande sind alle Mächte der Verwesung, alle abgelebten, fremden und feindlichen Elemente herrlich gediehen; seine Verewigung um jeden Preis ist ihr geheimes Ziel.“ Maschke fügte hinzu: „Zu halten, zu verteidigen, zu bewahren, gibt es hier nichts mehr.“ Nur als nationalrevolutionäre Bewegung könne der Konservatismus wieder Bedeutung gewinnen. Als Revolutionäre aber mochten nur die wenigsten sich verstehen. Es wäre in der Tat auf ein Himmelfahrtskommando hinausgelaufen.

Der „Bocksgesang“ blieb davon unberührt. Er konnte wieder so gelesen werden, wie er in die Öffentlichkeit getreten war: als eine über den Tag hinaus gültige Zeitdiagnose und – als Poesie.

Foto: Botho Strauß (Archivfoto): „Der Sänger aber sorgt in Trauerläuften / daß nicht das Mark verfault, der Keim erstickt“