© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

Grüße aus Bern
Legendäre Wirklichkeit
Frank Liebermann

Als ich noch ein kleines Kind war, gingen seltsame Geschichten umher, die wir damals mir voller Überzeugung glaubten. Heute würde man diese vermutlich „Urban Legends“ nennen. Eine davon war, daß wenn ein Fremder Mensch bei einem an der Haustür klingelt und dringend seinen Stuhlgang verrichten wolle, jeder verpflichtet sei, diesen einzulassen und dem Begehren nachzugeben. Und wenn man selber das gleiche Problem hätte, dürfe man auch bei beliebigen anderen Mitmenschen klingeln und sein Recht einfordern. Ansonsten könne der Betroffene bei der Polizei eine Anzeige erstellen. Ja, in den 1970er Jahren wurde die Polizei noch ernst genommen. 

Leider konnte ich nicht herausfinden, ob es in der Schweiz einen ähnlichen Mythos gab. Allerdings scheinen die Schweizer eine panische Furcht davor zu haben, daß Wildfremde ihre Toiletten heimsuchen und verunreinigen. In Bern gibt es in Cafés, Bars und Restaurants fast kein WC, welches ohne Schlüssel oder Code frei zugänglich ist. Demütig muß derjenige, der seine Notdurft verrichten will, beim Gastronomiepersonal antreten und seine Bitte vortragen. 

Die Berner haben manchmal schon ein seltsames Menschenbild.

Die meisten Gäste fragen verschämt, fast leise nach dem Code für die WC-Öffnung, als ob sie einen ungehörigen Wunsch vortragen würden. Bisher habe ich es nur einmal erlebt, daß ein stark angetrunkener Gast in einem Restaurant laut und deutlich durch den Gastraum rief: „Wie ist der Code fürs Scheißhaus?“ Natürlich – ein Deutscher. 

Die Berner haben manchmal ein seltsames Menschenbild. Gehen sie davon aus, daß Horden von Menschen durch die Stadt ziehen, nur mit dem Ziel, ihre Klos zu benutzen? Wer nachfragt, warum das so ist, erhält fast immer den Verweis auf Touristen.

Es gibt sie aber noch, die löblichen Ausnahmen. Diese sind aber sehr selten. Dabei handelt es sich meist um schummrige Bars, in denen in großem Ausmaß Alkohol konsumiert wird. Vermutlich ist der Aufwand für die Auf- und Abschließerei dort zu groß. 

Dieser finstere Trend nimmt immer größere Ausmaße an. Selbst in meinem Fitneßstudio muß jeder am Tresen einen Schlüssel abholen. Auch Kaufhäuser schließen sich dieser Unsitte an. Erst in der städtischen Peripherie läßt dieser Wahnsinn nach, bis er in den ländlichen Regionen vollständig verschwindet. Ohne Kontrollen darf dort jeder seinen WC-Gang absolvieren. Kein Wunder, denken die Ländler, daß die Stadtbevölkerung spinnt.