© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/18 / 09. Februar 2018

Vertrauen in Apoll und die Musen
Hier gilt’s der Kunst: Zur Geschichte der Berliner Staatsoper Unter den Linden im 20. Jahrhundert
Eberhard Straub

Friedrich der Große widmete 1742 seine Oper Unter den Linden in Berlin Apollo und den Musen. Er anerkannte damit ein souveränes Reich des Schönen, in dem Anmut und Würde herrschten. Sein Majestätsrecht bestand allein darin, einen besonderen Raum des zwecklosen, aber bedeutungsvollen Spiels zu ermöglichen und großzügig auszustatten. Die Oper blieb eine königliche Veranstaltung bis 1918, um die ernste Krone im Glanz vornehmer Festlichkeit liebenswürdiger zu machen. Die Inschrift leuchtet weiterhin frisch vergoldet auf der Fassade. Sie lenkt davon ab, daß die Oper seit dem Übergang von der Monarchie zur Republik 1918 / 19 längst eine staatliche Veranstaltung ist, in der, wie überall im Staat, Zweckmäßigkeit, Nutzen und Wirtschaftlichkeit berechnend in ein Verhältnis gebracht werden. In Staatsopern gibt es daher von vornherein Spannungen zwischen politischen Erwartungen und künstlerischer Freiheit. 

Die Oper sollte der Volkserziehung dienen

Immer wieder mußte der Staat mit den Worten Evas, die sie freilich in ganz anderen Zusammenhängen an Hans Sachs richtet, daran erinnert werden: Hier gilt’s der Kunst. Nicht nur in Berlin. Die bewegte Geschichte der Staatsoper Unter den Linden von 1918 bis 1989, die der Historiker und Musikwissenschaftler Misha Aster auch mit Sinn für dramatische Steigerungen entwickelt, handelt von der Funktion der Oper als Staatsbetrieb in den wechselnden politischen Systemen während des zwanzigsten Jahrhunderts. Darauf weist der Titel seines kürzlich erschienenen Buches hin, der ohne nähere Bestimmung sich idealtypisch auf den Begriff Staatsoper beschränkt. Das liegt nahe, weil der Berliner Staatsoper ohnehin ihre beiden Staaten – Preußen und die DDR – abhanden kamen. Ihr Name bezieht sich nicht mehr auf einen konkreten Staat. Er verweist jedoch darauf, daß sie eine Institution ist, die mit öffentlichen Mitteln alimentiert wird, so wie die beiden anderen Opern in Berlin. Sie sind ebenfalls öffentliche Einrichtungen und können unter Umständen mit politischen Begehrlichkeiten konfrontiert werden. Denn staatlich bedeutet bei der parteipolitischen Durchdringung des Staates eben das gleiche wie politisch.

Für preußische Sozialdemokraten galt die königliche Hofoper als Repräsentantenhaus der hoffähigen reaktionären Eliten im Adel und im reichen Bürgertum, die ohnehin miteinander verschmolzen. Die Oper sollte sich von nun an allen Schichten zuwenden, da die Kunst aus dem Volke  aufsteige und sich dem Volke zuwende. Das hieß, auf ihre soziale Relevanz zu achten und auf Werke im Repertoire zu verzichten, die für Demokraten belanglos oder gar gefährlich sein können. Die musikdramatische Kunst sollte erziehen, das kritische Bewußtsein schulen und das Verständnis für Freiheit erweitern.

Mit solchen Forderungen wurden sozialästhetische Überlegungen Wagners aktualisiert und trivialisiert. Übrigens ließen sie sich mühelos von den Kommunisten und den Nationalsozialisten übernehmen, die je auf ihre Art vom Volk und der Volksgemeinschaft redeten – und von der Erziehung durch Kunst zur gesellschaftlichen Verantwortung.

Das Dilemma ließ sich freilich nicht verleugnen, daß die rund fünfzig Opern, die ein Publikum fanden und weiterhin das Haus füllten, aus der sogenannten feudalen oder bildungsbürgerlichen Epoche stammten. 

Auch die Volks- oder Sozialoper, in Berlin die Kroll-Oper, das größte Haus mit den billigsten Karten, war ein Opernmuseum, weil die angeblich kunstfernen Unterschichten wie die Oberschichten am liebsten in die „Zauberflöte“, den „Rigoletto“ oder den „Fliegenden Holländer“ gingen. Sozialnaher Verzicht auf historische Kostüme und Kulissen und dafür moderne Sachlichkeit begeisterte Intellektuelle und sehr geistreiche Künstler, aber gerade nicht Arbeiter und kleine Angestellte, die doch angeblich ihrer Welt auf der Bühne begegnen wollten.

Niemand rief dazu auf, Opernhäuser zu schließen

Alban Bergs „Wozzeck“, 1925 uraufgeführt, wurde von vielen gleichsam als die neue, wünschenswerte republikanische, gar sozialdemokratische Oper gefeiert, die Tragödie des im militaristischen Klassenstaat gequälten und erniedrigten „kleinen Mannes“. Sie beschäftigte die  immer neugierige elegante Welt aus Dahlem und Babelsberg. Für Otto Normalverbraucher, der damals als Sozialtyp aufkam, waren die Karten unerschwinglich und die Musik mehr oder weniger unverständlich, da er ja zum Kummer der Volkserzieher im „Schwarzwaldmädel“ Erholung vom grauen Alltag suchte. 

Die Oper war wegen der Inflation und ab 1929 wegen der fundamentalen Wirtschaftskrise zum Luxus geworden. Es bleibt eines der erstaunlichsten Phänomene in dieser aufgeregten Zeit, daß ganz unabhängig von Parteien und Klassen und den finanziellen Schwierigkeiten niemand dazu aufrief, Opernhäuser zu schließen und Orchester aufzulösen. Im Land der Musik wollte keiner – ganz unabhängig von Ideologie und Weltanschauung – auf Musik verzichten, koste es, was es  wolle. Der Glaube an die Musik als heil’ge Kunst und wahrhaft deutsche, rein menschliche, Versöhnung stiftende Kunst, vereinte alle Deutsche, auch die, die sich musikalische „Erlebnisse“ gar nicht leisten konnten.

Mitten in der alles umfassenden Krise konnte man eifrig darüber diskutieren: Wie viele Opern braucht Berlin? – vielleicht eine umstrittene Reichshauptstadt, aber unumstritten die Welthauptstadt der Musik mit drei Opern, die sich bemühten, nicht nur ein Kulturmuseum zu sein. In dieser Zeit wurde zum wichtigsten Organisator Heinz Tietjen, ein erfahrener Betriebswirt, ein rechnender Bildungsbürger, ein Diplomat, aber auch ein Dirigent, ein Künstler, ein praktischer Wagnerianer. Hier gilt’s der Kunst, Apoll und den Musen! Von 1926 bis in die fünfziger Jahre in West-Berlin sorgte sich dieser undurchsichtige und unbestechliche Musikweltherrscher um das Überleben der Oper und der freien Kunst. Er mag ein Opportunist gewesen sein, der mit allen Systemen zurecht kam und deren Jargon aufgreifen konnte, das leugnet Misha Aster gar nicht, aber nur auf diese sehr schlaue Weise konnte er die Staatsoper vor dem totalen Staat schützen und die Musik als die wahre deutsche Weltmacht vor lästigen politischen Übergriffen sichern.

Frontstädter leiteten einen Sängerkrieg ein

Natürlich war die Staatsoper ein Instrument für die nationalsozialistische Propaganda; sie ging auf Reisen, schon vor dem Krieg, doch trotz vordergründiger parteipolitischer Zwecke der NSDAP diente sie auf diese Weise der Kunst, denn sie verfügte weiterhin über eines der besten Ensembles in Europa. Nach dem „totalen Zusammenbruch“ 1945 brauchten die Berliner wie eh und je Musik und Oper. Auch die Parteien, die wieder einmal ein neues Deutschland aufbauen wollten. Erich Kleiber, bis 1935 Generalmusikdirektor der Preußischen Staatsoper, verhandelte ab 1952 über die Möglichkeiten, an dem von ihm so geliebten Haus, jetzt Deutsche Staatsoper genannt, seine durch erzwungene Emigration unterbrochene Tätigkeit wieder fortzusetzen. 

Die West-Berliner, die Frontstädter, waren empört über diesen Verräter westlicher Werte und leiteten gleich zu Beginn des Kalten Krieg einen Sängerkrieg ein, jeden diskriminierend, der bereits an der „Ostoper“ sang – vorläufig noch im Admiralspalast – oder zu erkennen gab, Erich Kleibers Angeboten zu folgen. Dieser Alt-Österreicher mit argentinischem Paß hoffte, zwischen West und Ost von der Staatsoper eine Brücke schlagen zu können. Er wollte gesamtdeutsch und gesamteuropäisch wirken. Aber die Westdeutschen und West-Berliner drohten ihm und anderen mit Auftrittsverboten, wenn er „drüben“ arbeiten werde. Sie dachten nicht mehr an das ganze Berlin, das einige Deutschland und das gemeinsame Europa als untrennbaren Kulturraum. Als Bürokraten und Parteifunktionäre der DDR sich 1955 weigerten, die Widmung Friedrich des Großen an Apoll und die Musen an seiner wieder aufgebauten Oper anzubringen, fürchtete Kleiber ideologische Bevormundung wie 1935 und sah seine und die Freiheit der Kunst gefährdet. Er sagte den Politikern 1955 ab und verließ Berlin. 

Die weitere Geschichte der Staatsoper im Kalten Krieg ist die zuweilen recht peinliche Geschichte, wie westliche Musikfreunde sich nur mit Musik befreunden können, die im Westen gespielt wurde. Apoll und die Musen durften keine neutralen Mächte bleiben. Erich Honecker ließ die von Erich Kleiber vermißte Inschrift auf der Opernfassade im Zuge seiner geschichtspolitischen Restaurationsbemühungen wieder anbringen. Dabei handelte es sich um Politik, ihm ging es nicht um die freie Kunst und die Freiheit der Streiter im Namen Apollos. Die Widmung ist aber allemal eine Mahnung, in völlig politisierten Zeiten es dennoch zu wagen, Apoll und den Musen mehr zu vertrauen als parteilichen Verheißungen.

Misha Aster: Staatsoper. Die bewegte Geschichte der Berliner Lin-denoper im 20. Jahrhundert. Siedler Verlag, München 2017, gebunden, 544 Seiten, 28 Euro