© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/18 / 09. Februar 2018

Die Trümmer waren längst beseitigt
Deutschland nach 1945: Die „Wiederaufbaulüge“ macht die Leistung der Kriegsgeneration verächtlich
Michael Paulwitz

Bundesaußenminister Sigmar Gabriel schmeichelte Anfang Januar seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavusoglu mit der Bekräftigung der dreisten Legende, türkische Arbeitskräfte hätten nach dem Krieg „Deutschland wiederaufgebaut“. Die „Wiederaufbaulüge“, von der Grünen-Politikerin Claudia Roth schon 2004 verbreitet, von der türkischen Propaganda emsig wiederholt und inzwischen sogar in die verkürzten Darstellungen mancher Schulbücher aufgenommen, ist eine abenteuerliche Geschichtsklitterung. Als die ersten Gastarbeiter (übrigens aus Italien) 1956 in Deutschland ankamen, war der unmittelbare Wiederaufbau in West und Ost faktisch abgeschlossen, und das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ lief auf vollen Touren.  

Deutschlands Städte starben nicht im Spreng- und Brandbombenhagel der alliierten Luftflotten. Aber Deutschland war eine Trümmerwüste, als am 8. Mai 1945 die Waffen endlich schwiegen. Ein Viertel des Wohnungsbestands von 1939, 4,8 Millionen von 18,8 Millionen Wohnungen, war zerstört. In den Städten türmten sich 400 Millionen Kubikmeter Trümmer. Nur vier von 54 Großstädten des Jahres 1939 – Lübeck, Wiesbaden, Halle, Erfurt – auf dem Gebiet der vier Besatzungszonen waren vergleichsweise nur leicht zerstört, 30 Innenstädte waren jedoch bis zu 70 Prozent verwüstet. In einem Drittel der 151 Mittelstädte waren mehr als zwanzig Prozent der Wohnungen zerstört. Pessimisten nahmen an, allein die Enttrümmerung würde wohl Jahrzehnte dauern. Im Fall des erst Mitte März 1945 zerstörten Würzburgs, der mit 75 Prozent am stärksten zerstörten Großstadt, wurden Stimmen laut, die Ruinen als Mahnmal stehenzulassen und die Stadt an anderem Ort neu aufzubauen.

Tatsächlich setzten die Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten noch im Jahr 1945 ein. Die Trümmerbeseitigung war bereits nach wenigen Jahren weitgehend abgeschlossen. Sowohl im Westen wie in Mitteldeutschland trugen zunächst Frauen die Hauptlast der Räumarbeiten und der Gewinnung von Baumaterial für den Wiederaufbau aus den Ziegeln der Ruinen. Die „Trümmerfrau“ wurde zum Symbol der Zeit.

Zunächst mußten elementare Bedürfnisse erfüllt werden: Wiederherstellung von Arbeitsstätten, Schaffung von Wohnraum für das Millionenheer der Ausgebombten und für 15 Millionen Heimatvertriebene aus den von Polen und der Sowjetunion okkupierten Ostprovinzen und den ost- und südosteuropäischen Siedlungsgebieten.

Die Gastarbeiter kamen in ein Wirtschaftswunderland

Mit diesen stand zugleich ein mobiles Arbeitskräftereservoir zur Verfügung, das zusammen mit den Zug um Zug heimkehrenden Kriegsgefangenen anpacken konnte. Der Wiederaufbau gewann vor allem nach der Währungsreform von 1948 und mit der Anschubhilfe der Marshallplan-Kredite in Westdeutschland rasch an Dynamik. 

Schon 1950 erreichte Deutschland in den vier Zonen ohne seine Ostgebiete wieder die Wirtschaftsleistung ganz Deutschlands von 1936. Bereits Mitte der fünfziger Jahre war der unmittelbare Wiederaufbau in Westdeutschland im wesentlichen abgeschlossen, die Wohnungsnot beseitigt und die Bundesrepublik Ende der fünfziger Jahre zum zweitstärksten Industriestaat nach den USA aufgestiegen.

Erst in dieser Phase wurden auf Druck der Entsendeländer, die ihre Außenhandelsdefizite reduzieren wollten, Anwerbeabkommen für ausländische Arbeitnehmer geschlossen. Bis 1959 kamen im Rahmen des 1955 geschlossenen Italien-Abkommens nicht einmal 50.000 Arbeitnehmer nach Deutschland. Als die Bundesrepublik dem Drängen Spaniens und Griechenlands nachgab und 1960 mit diesen Staaten weitere Abkommen schloß, herrschte in Westdeutschland Vollbeschäftigung. 

Die Türkei, die rückständiges Agrarland geblieben war und unter Bevölkerungsexplosion und innenpolitischen Krisen und Unruhen litt, wollte ebenso wie Italien, Spanien oder Portugal vom deutschen Wirtschaftswunder profitieren, ihre Bevölkerungsüberschüsse exportieren und mit den Rücküberweisungen der Gastarbeiter ihre Bilanz verbessern. Die USA unterstützten diesen Wunsch ihres strategisch wichtigen Nato-Partners, so daß 1961 trotz gravierender Bedenken der Bundesregierung ein Anwerbeabkommen „als diplomatisches Tauschgeschäft“ auch mit Ankara zustandekam.

1953 hatte der Chemiebetrieb Hoechst alleine mehr als hunderttausend deutsche Mitarbeiter, mehr als alle Industriebeschäftigten in der Türkei zusammen. Weit davon entfernt, daß türkische Arbeiter, die in ein auf Hochtouren brummendes Industrieland kamen, Deutschland „aufgebaut“ hätten, war es vielmehr die Bundesrepublik Deutschland, die der Türkei gleich mehrfach unter die Arme griff: durch die Aufnahme von Gastarbeitern und durch direkte „Entwicklungshilfe“-Zahlungen, die die Türkei bis 2006 aus Deutschland erhielt. 

Daß der Wiederaufbau in Westdeutschland so zügig gelang, lag keineswegs hauptsächlich an den US-amerikanischen Marshallplan-Krediten für den europäischen Wiederaufbau (die Bundesrepublik bekam von den Krediten etwa 10 Prozent, 20 Prozent der Gelder flossen nach Frankreich, 25 Prozent nach Großbritannien), wie es mittlerweile in vielen Schulbüchern verkürzt dargestellt wird. Die unter der Erde gelegene Infrastruktur war trotz der oberirdischen Zerstörungen weitgehend intakt geblieben oder konnte zügig instandgesetzt werden. Stadtplaner und Verwaltungen konnten zum Teil auf noch in Kriegszeiten entwickelte Pläne für den vereinfachten Wiederaufbau zurückgreifen. Die marktwirtschaftliche Achtung des Privateigentums mobilisierte Investitionen von Privatleuten und Unternehmern, die Vermögenswerte gerettet hatten oder im Aufschwung nach der Währungsreform wieder erwerben konnten. 

Der Wiederaufbau hatte ein unterschiedliches Gesicht

Die Selbstverwaltung der Städte und Kommunen ermöglichte schnelle Entscheidungen und unterschiedliche Antworten. Einige Städte entschieden sich für den – mehr oder weniger vereinfachten – Wiederaufbau in den historischen Grundrissen. Die Innenstädte von Nürnberg, Würzburg oder München erstanden in den vertrauten Dimensionen neu, Münster oder Freiburg haben heute wieder die Anmutung „alter“ Städte. 

Andere Städte verfolgten radikalere Konzepte, die Straßenzüge verbreiterten, historische Bebauungszeilen opferten, Grundrisse vereinfachten und Gassen und Winkel beseitigten, um die „autogerechte Stadt“ zu schaffen. Stuttgart, Hannover oder Frankfurt, wo von der historischen Bausubstanz im Stadtinneren nur einzelne restaurierte Inseln oder markante wiederhergestellte Gebäude übrigblieben, sind Beispiele dafür. 

Als die ersten Türken sich als Arbeitskräfte nach Deutschland bewarben, waren diese Fragen längst entschieden und die Antworten umgesetzt. Sie kamen, um gutes Geld zu verdienen – in ein Deutschland, das die Deutschen selbst und aus eigener Kraft binnen zehn Jahren von einem Trümmerfeld wieder zum führenden Industriestaat Europas gemacht hatten. Sigmar Gabriel, Claudia Roth und alle, die das Märchen nachplappern, „die Türken“ hätten Deutschland wiederaufgebaut, machen eine der eindrucksvollsten nationalen Kraftanstrengungen verächtlich, die die Geschichte je gesehen hat.