© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/18 / 09. Februar 2018

Ein Mehrkampftyp sprengt die Ketten von Versailles
Carl Heinrich Becker und die Sportwissenschaft als eine nationalpädagogische Paradedisziplin der Weimarer Republik
Dirk Glaser

Den Aufstieg vom Vortragenden Rat zum Staatssekretär und zum preußischen Kultusminister bewältigte der Orientalist Carl Heinrich Becker zwischen 1916 und 1921 im Eiltempo. Genauso zielstrebig trieb er nach dem Ende der Hohenzollernmonarchie seine Reformen der preußischen Hochschullandschaft voran, die ihm den Ruhm eines „Humboldt der Weimarer Republik“ eintrugen.

In der jüngeren bildungshistorischen Forschung steht der zur linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei neigende Becker, bei allem Respekt vor innovativen Ansätzen, trotzdem als „gescheitert“ da, weil er seine „Universitätskonzeption als Ganzes“ gegen den Widerstand der als „reaktionär“ verschrienen Professorenschaft und der sie parlamentarisch stützenden Rechtsparteien nicht durchzusetzen vermochte. 

Diese Negativbilanz beurteilt Beckers Scheitern jedoch nach anachronistisch-bundesdeutschen Maßstäben, denen zufolge die „Demokratisierung“ und „Liberalisierung“ des Hochschulwesens nicht weit genug vorangetrieben worden seien. Tatsächlich war es wohl so, daß Beckers geistesaristokratische, dem „Dritten Humanismus“ des Gräzisten Werner Jaeger und dem elitären Menschenbild des George-Kreises huldigende Erziehungsideale den Ansprüchen nicht mehr gerecht geworden sind, die eine egalitäre, demokratisch verfaßte, dem ökonomischen Primat unterworfene Massengesellschaft an ihre höheren Bildungseinrichtungen stellte.

Obwohl der Erfurter Sporthistoriker Jürgen Court das herkömmliche Bild des „gescheiterten“ Reformers nicht korrigieren, sondern sogar „schärfen“ möchte, trägt er mit seiner Studie über „ein nahezu unbekanntes Kapitel deutscher Universitätsgeschichte“ eher absichtslos dazu bei, die relative Zweitrangigkeit demokratischer Motive in Beckers Bildungsphilosophie des „defensiven Modernismus“ kräftig zu konturieren. Zu diesem Zweck beleuchtet Court dessen Hochschulreform aus der originellen Perspektive der 1922 winterlich in Garmisch-Partenkirchen, sommerlich in Berlin abgehaltenen „Deutschen Kampfspiele“ (Sudhoffs Archiv, 1/2017).

Dieses „nationale Olympia“, an dem sich fast 10.000 Wettkämpfer beteiligten, parierte das Versailler Diktat mitsamt seiner kulturpolitischen Kollateralschäden, zu denen für das besiegte Deutsche Reich ein von Frankreich organisierter internationaler Boykott der deutschen Wissenschaft genauso gehörte wie der Ausschluß deutscher Sportler von den erstmals 1920 wieder stattfindenden Olympischen Spielen, den Antwerpener „Spielen der Entente“. Für die im Mai 1920 in Berlin-Charlottenburg eröffnete Deutsche Hochschule für Leibesübungen (DHfL) gerieten die Veranstaltungen zur Bewährungsprobe einer noch jungen Sportwissenschaft. Sie marschierte ganz vorn in Beckers Parade interdisziplinärer, als Gegengewicht zu lebensfremdem „Spezialismus“ und „Intellektualismus“ gedachter sinnstiftender „Synthesefächer“: der nach 1918 massiv geförderten Soziologie, der Philosophie als „Weltanschauungskunde“, der „deutschkundlich“ neu justierten Germanistik oder den zur „Auslandskunde“ kulturwissenschaftlich aufgerüsteten neuphilologischen Disziplinen.

Relative Zweitrangigkeit demokratischer Motive

Vor allem die Berliner Sektion der Kampfspiele bot dem interdisziplinären DHfL-Ensemble aus Arbeitsphysiologen, Anthropologen, Konstitutionsforschern und Psychologen eine einmalige Gelegenheit, fern vom Reduktionismus der Labormedizin, Massenuntersuchungen anzustellen und empirisches Material zur Beantwortung der bildungspolitisch hochrelevanten Frage nach den optimalen physischen Voraussetzungen der geistigen und moralischen Regeneration des, wie es der Berliner Chirurg August Bier zur DHfL-Eröffnungsfeier formulierte, „sittlich heruntergekommenen, entehrten, völlig zusammengebrochenen“ deutschen Volkes. 

Der während der Kampfspiele arbeits- und sportmedizinisch konstruierte „deutsche mittlere Typ“, der vielseitig begabte „Mehrkampftyp“, entsprach den Erwartungen des die Harmonie von Körper, Geist und Seele beschwörenden humanistischen Menschenbilds Beckers, dem der von Idealen der Jugendbewegung wie vom Kriegserlebnis geprägte „Gemeinschaftsmensch“, der junge deutsche Mensch von sozialer Gesinnung und starker Religiosität, schon recht nahe kam.

Eingebettet in den noch die Turnlehrerausbildung infiltrierenden nationalpädagogischen Kontext der Mobilisierung kollektiven Selbstbehauptungswillens zwecks Sprengung der „Ketten von Versailles“, mußte dieses auf die Erziehung von „Führerpersönlichkeiten“ fixierte elitäre, letztlich im „alten Hellas“ wurzelnde Bildungs-ideal mit der Gleichheitsdogmatik der Weimarer Verfassung kollidieren, so daß auch die Sportwissenschaft der Republik nach 1945 als „antidemokratisch“ in Verruf kam.