© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/18 / 16. Februar 2018

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Vom Bannstrahl ungerührt
Paul Rosen

Eine größere Gruppe junger Leute mit Transparenten  steht vor dem Nordeingang des Reichstages. Im Parlament werden die Abgeordneten gleich über den Familiennachzug von Flüchtlingen debattieren. Die Demonstranten, etwa je zur Hälfte Ausländer und Deutsche, rufen Parolen für den Nachzug. Nach ein paar Stunden löst sich die von nur einigen Polizisten beäugte Gruppe von selbst auf. 

So friedlich gingen Demonstrationen vor dem Parlament nicht immer ab. 1993 befand sich die damalige Bundeshauptstadt Bonn für mehrere Tage im Ausnahmezustand, als über 100.000 linke Demonstranten gegen eine Verschärfung des Asylrechts demonstrierten. Das Regierungsviertel wurde blockiert, Abgeordnete mußten entweder mit dem Boot über den Rhein zum Plenarsaal übersetzen oder wurden mit Hubschraubern eingeflogen. Aber der von einem starken Polizeiaufgebot geschützte Bannkreis rund um die Bundestagsgebäude hielt. Die Bilder zeigten ein „Deutschland im Belagerungszustand“, klagte damals Herbert Kremp, Chefredakteur der Welt. 

1997 wurde es wieder heftig, als rund 50.000 Bergleute auf der Bundesstraße 9 direkt am Bannkreis demonstrierten. Die Polizei hielt dem Druck der über Sozialleistungskürzungen erbosten Kumpel nur mit Mühe stand. Als es zu vereinzelten Verbrüderungen zwischen den oft aus Bergbaurevieren in Nordrhein-Westfalen stammenden Polizisten und Bergleuten kam und ein Durchbruch zum Kanzleramt drohte, wurden die Polizeieinheiten schnell durch Kräfte aus dem fernen Mecklenburg-Vorpommern ersetzt. Der Bannkreis konnte gehalten werden.

Im Bannkreis oder innerhalb der Bannmeile rund um das Parlament waren seinerzeit keine Demonstrationen erlaubt. Wer die Grenze überschritt, dem drohte nach dem damaligen Paragraphen 106a des Strafgesetzbuches eine Strafe. Im Jahr 2000 hob der Bundestag die Vorschrift auf Initiative der rot-grünen Bundestagsmehrheit mit Verabschiedung des „Gesetzes über die Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes“ auf. Seitdem gibt es rund um Reichstagsgebäude und Kanzleramt nur noch einen „befriedeten Bezirk“, in dem Demonstrationen zulässig sind, soweit keine Störungen zu erwarten sind. In sogenannten sitzungsfreien Wochen, wenn die Abgeordneten nicht tagen, ist der Schutz der Verfassungsorgane noch dürftiger. Mit der Bannmeilenregelung werde das Parlament vor dem Volk geschützt, „und das paßt zum Obrigkeitsstaat“, unterstützten damals Die Zeit und viele andere Medien das Vorhaben von Rot-Gün.

Eine echte Bewährungsprobe für die neuen, abgeschwächten Vorschriften gab es bisher nicht. Nach der letzten Bundestagswahl konnten rund 1.500 Demonstranten die Straße zwischen dem Paul-Löbe-Haus des Bundestages und dem Kanzleramt innerhalb des befriedeten Bezirks passieren, um gegen den Einzug der AfD in den Bundestag zu protestieren. Was alles hätte passieren können, wenn ein Teil der Demonstranten abgebogen und in das praktisch ungesicherte Löbe-Haus eingedrungen wäre, mag man sich lieber nicht vorstellen.