© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/18 / 16. Februar 2018

Angebote mit Zuckerbrot und Peitsche
Zwei britische Migrationsforscher plädieren für eine neue Flüchtlingspolitik
Paul Leonhard

Das Auseinanderdriften Europas und das Elend der Flüchtlingskrise hängen eng mit dem Namen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zusammen. Dies weisen die beiden Oxforder Migrationsforscher Alexander Betts und Paul Collier in ihrer spannenden Analyse „Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist“ nach.

Vier Entscheidungen haben danach zur syrischen Flüchtlingskrise geführt: Die erste war, daß die reichen Länder die Regierungen die Zufluchtsländer im Stich ließen. Während Jordanien eine Anzahl von Flüchtlingen aufnahm, die mindestens einem Zehntel seiner Bevölkerung entsprach, kürzte beispielsweise die deutsche Regierung 2014 die Hilfszahlungen an das UNHCR in Jordanien um die Hälfte. Die gravierendste Fehlentscheidung traf Merkel aber, als sie uniliteral die Dublin-Verordnung außer Kraft setzte, nach der Flüchtlinge in das erste EU-Land ihrer Ankunft zurückgeschickt werden mußten.

Das wiederum hatte „drei ungewollte Konsequenzen“ schreiben die Autoren: Wegen der gewaltigen Expansion der Schleuserkriminalität ertranken Tausende Menschen, die in regionalen Asylländern geblieben wären, wenn man sie nicht dazu verleitet hätte, ihr Leben zu riskieren. Wegen des enormen Zustroms nach Deutschland und Schweden kippte dort die Stimmung von einem wohlwollenden Empfang zu Abneigung und Angst, worauf Schweden und Dänemark die Grenzen schlossen und Merkel dem türkischen Präsidenten „peinliche Zugeständnisse“ machen und ihm sechs Milliarden Euro Finanzhilfe zusagen mußte, damit dieser Flüchtlinge aufnimmt. Daraufhin entdeckten andere Länder wie beispielsweise Kenia, daß sie „Flüchtlingspopulationen als Druckmittel einsetzen konnten“.

Merkels Aussetzen der Dublin-Verordnung brachte überdies die Europäische Kommission in ein Dilemma: Sie konnte die Deutschen zurückpfeifen oder die durch die Kanzlerin geschaffenen, gesetzwidrigen Tatsachen akzeptieren. Sie entschied sich für letzteres und verstärkte diese sogar, indem sie einen Plan zur Umverteilung von Flüchtlingen auf andere Mitgliedsstaaten entwarf. Dieser wäre eigentlich erledigt gewesen, weil einige Staaten gegen diesen stimmten, aber plötzlich galt nicht mehr die bisherige Praxis der Einstimmigkeit.

Das sorgte nicht nur für Aufruhr in den osteuropäischen Ländern wie Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, sondern hatte eine „dritte unbeabsichtigte Konsequenz“, so Betts und Collier, und zwar auf das sich in der Endphase befindende Referendum in Großbritannien über dessen Verbleib in der EU: „Das wahrgenommene Mißmanagement der Flüchtlingskrise durch die Kommission und die wahrgenommene Dominanz ihrer Entscheidungen durch Deutschland wurden von den Befürwortern des Brexit als Geschenk des Himmels erkannt.“ Die zentralen Entscheidungen der Flüchtlingskrise hätten ungewollt zur Folge, daß die Bevölkerung eines der größten EU-Mitgliedsländer beschloß, aus der Union auszutreten, vermuten die Autoren.

Ansiedlungsprogramme sollten nur Ultima ratio sein

Die letzte „unbeabsichtigte Konsequenz“ sei aber, daß sich derzeit rund die Hälfte der Syrer mit Hochschulabschluß in Europa aufhalte und damit jene Menschen, die das Land für den Wiederaufbau dringend benötigt. Die Autoren attestieren den Politikern nicht nur Versagen in einer „modernen Tragödie“ mit derzeit vier Millionen Flüchtlingen, sondern beschreiben auch einen möglichen neuen Ansatz für eine globale Flüchtlingspolitik, „einen, der nicht auf Lagern, Gerichtsentscheidungen und Panik basiert, sondern auf den Bedürfnissen der Flüchtlinge“.

Dazu analysieren sie die gravierendsten Fehlentscheidungen: Angesichts des Bürgerkriegs in Syrien hätte das Flüchtlingshilfswerk zusammen mit der Weltbank großzügig Geld bereitstellen müssen, um die Nachbarländer zu entlasten. Anschließend hätten wirtschaftliche Entwicklungszonen eingerichtet werden müssen. Junge Syrer, die es trotzdem nach Europa gezogen hätte, hätten sich von diesen Entwicklungszonen aus bewerben können. Wer trotzdem illegal nach Europa gelange, würde in eine solche Zone zurückgeschickt werden. Selbst im Fall von Kenia sei zu vermuten, daß „mit dem geeigneten Angebot von Zuckerbrot und Peitsche so gut wie alles möglich ist“, schreiben die Autoren. Die dortige Regierung habe sich bereits auf ein kleines Experiment eingelassen, als es Flüchtlingen versuchsweise ein selbständiges Leben in dem neu eröffneten Lager Kalobeyei im Turkana-Tal gewährt. Kenia könne wie Jordanien von Handelskonzessionen profitieren, indem man dem Land für die in Wirtschaftszonen von Flüchtlingen produzierten Waren einen bevorzugten europäischen Marktzugang gewährt.

Leben und Arbeit im sicheren Asylland könnten das Verhalten nach der Rückkehr prägen, sind sich die Autoren gewiß. Ihr Optimismus gründet auch auf der Tatsache, daß ihr Ansatz „mit einer bemerkenswerten Geschwindigkeit“ von einer Reihe von Akteuren in der Flüchtlingsszene aufgegriffen wurde. Im Oktober 2016 habe der Verwaltungsrat der Weltbank Jordanien ein Darlehen von 300 Millionen Euro für die Neuausstattung von Industriezonen gewährt, in denen 120.000 syrische Flüchtlinge einen Arbeitsplatz erhalten sollen. Auch andere Behörden greifen das „jordanische Modell“ auf. Eine Ansiedlung der Flüchtlinge in den Fluchtländern, wie es in Deutschland beispielsweise derzeit mit Wohnungsbauprogrammen staatlich gefördert wird, sollte allenfalls erfolgen, wenn auch nach fünf bis zehn Jahren keine Lösung der Konflikte in Sicht ist, die die Flucht ausgelöst haben. Das Buch endet mit der Mahnung, daß nur in Krisenzeiten Veränderungen des internationalen Systems durchgesetzt werden können, und der Aufforderung an den Leser: „Jetzt sind Sie am Zug.“

Alexander Betts, Paul Collier: Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist. Siedler Verlag, München 2017, gebunden, 336 Seiten, 24,99 Euro