© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/18 / 23. Februar 2018

„Kleine Leute erreichen wir nicht mehr“
SPD-Regionalkonferenzen: Für die Basis ist die Große Koalition unschön, aber offenbar alternativlos / Partei steckt in der Existenzkrise
Hinrich Rohbohm

Das Interesse ist gewaltig. Vor dem Saaleingang zum Wardenburger Hof hat sich eine lange Schlange gebildet. Hunderte von Sozialdemokraten sind nach Wardenburg gekommen, einem Ort südlich von Oldenburg, in den der SPD-Bezirksverband Weser-Ems zur Regionalkonferenz geladen hat. Die Basis soll hier mit ihrer Parteiführung das Für und Wider einer Großen Koalition diskutieren. Die SPD-Spitze hat dies von einem Mitgliedervotum abhängig gemacht. In dieser Woche werden die Abstimmungsunterlagen an alle Mitglieder versandt. 

„Parteiöffentliche Veranstaltung. Nur für Mitglieder“, steht am Eingang auf einem weißen Zettel. Die Presse muß draußen bleiben. Wie auch bei allen anderen Regionalkonferenzen, die die SPD derzeit bundesweit abhält. Die Mitglieder sollten offen sagen, was sie denken, lautet die Begründung. Es dürfte in Wahrheit mehr die Furcht vor Frust und Unmut an der Basis sein. 

Lediglich 20,5 Prozent konnte die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Martin Schulz einfahren. Ihr schlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik. Unmittelbar nach der Wahl hatte Schulz erklärt, seine Partei werde in die Opposition gehen. Doch nach dem Scheitern eines Jamaika-Bündnisses folgt die Kehrtwende. Der ehemalige EU-Parlamentspräsident will plötzlich Außenminister werden, Andrea Nahles den Parteivorsitz übernehmen. Die Querelen in der Parteiführung beginnen sich zu verschärfen, als der ausgebootete Noch-Außenminister Sigmar Gabriel seinen Parteifreund Schulz öffentlich angreift. Der wiederum macht eine Rolle rückwärts, verzichtet nun wieder auf das Außenressort. 

„Dieses Kasperltheater ist eine Schande für unsere Partei“, schimpft ein Genosse im Saal. Die SPD verschleiße mehr Vorsitzende als der HSV Trainer, spötteln einige später. Der Streit hat folgen. Der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa zufolge kommt die SPD derzeit nur noch auf 15,5 Prozent der Stimmen. Womit sie hinter die AfD zurückfällt und bundesweit erstmals nur noch drittstärkste Kraft wäre. 

Auch aus Delmenhorst sind Mitglieder zur Regionalkonferenz gekommen. Bei ihnen wiegt der Frust besonders schwer. „Wir waren immer Anwalt der kleinen Leute. Die verprellen wir gerade“, schimpft einer von ihnen. In der 70.000 Einwohner zählenden Stadt ist der Migrantenanteil besonders hoch. Bei der Kommunalwahl im September 2016 hatte die AfD hier aus dem Stand 15,1 Prozent erhalten. „Ich kann nicht verstehen, warum unsere Parteiführung andauernd versucht, die Politik der Grünen zu kopieren“, sagt dort ein Delmenhorster Genosse, der sich schon vor längerer Zeit aus der aktiven Politik zurückgezogen habe, wie er sagt. Dabei seien in seiner Stadt die Grünen doch nicht zuletzt aufgrund ihrer Migrationspolitik „der große Wahlverlierer“ gewesen. 

Der Beifall ist mäßig.      Viele sind unentschlossen

Unterdessen ist die Stimmung in der Menschenschlange der Mitglieder vor dem Saal gut. Noch. Freundliche Hallo-Rufe, Scherze, Händeschütteln. Ein SPD-Funktionär steht am Eingang, begrüßt jeden persönlich mit Handschlag.  „Wie ich mich heute wieder für die Partei zerrissen habe“, erzählt eine ältere Sozialdemokratin den neben ihr stehenden Genossen von einer Prospektverteilung. Es klingt fast wie eine Drohung. 

Vor Beginn der Diskussion mahnt die Parteiführung zu sachlicher Diskussion. Auf den Tischen hat sie Zettel auslegen lassen, die die SPD-Basis auf Koalitionskurs bringen sollen. „Gemeinsam was bewegen“ steht darauf. Ein zehnseitiges Papier, das die Erfolge der Koalitionsverhandlungen anpreist. „Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben in den Verhandlungen der letzten Wochen viel für unsere Wählerinnen und Wähler, für 42 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Familien und unser Land erreicht. „Glaubt uns doch kein Mensch“, schimpft ein Mitglied. Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies tritt als Hauptredner auf. Eigentlich sollte Innenminister Boris Pistorius erscheinen. Doch der mußte kurzfristig absagen. Krisensitzung des SPD-Bundesvorstandes. Lies wirbt ebenfalls für die Koalition. Erwartungsgemäß. Seine Position: Die Union habe weitestgehende Zugeständnisse gemacht. Man könne jetzt viele SPD-Inhalte umsetzen oder in die Opposition gehen und nichts davon umsetzen, zudem Neuwahlen riskieren. Der Beifall ist mäßig. Zerrissenheit prägt die Parteiseele. Viele sind unentschlossen. 

Das ist auch auf dem Kreisparteitag der SPD Bochum der Fall. 4.000 Mitglieder zählt der Verband. Der Ruhrpott gilt als die Herzkammer der SPD. Eine Herzkammer, in die sich mit der AfD ein gefährlicher Stachel zu setzen droht. Wie im Nachbarort Gelsenkirchen. Dort hatte die SPD vor zwanzig Jahren noch Ergebnisse über 60 Prozent eingefahren. 2017 waren es noch 33,5 Prozent, die AfD holte 17 Prozent. 

„Wir verkommen zur reinen Akademiker-Partei, die kleinen Leute erreichen wir nicht mehr“, meint auch hier ein 82 Jahre alter Sozialdemokrat gegenüber der JF. „Eigentlich will ich die Große Koalition nicht“, sagt er. „Aber ich fürchte, der Wähler wird uns abstrafen, wenn wir uns da verweigern.“ Wie er denken viele in der SPD. Doch in Bochum dominieren die Jusos die Debatte mit zahlreichen Wortbeiträgen. Der Beifall für sie ist aber ebenso verhalten wie bei den Befürwortern. „Letztlich werden wir wohl mitmachen“, tippt der 82jährige. „Aber gut bekommen wird es uns nicht“, orakelt er.