© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/18 / 23. Februar 2018

Bedingt lebensfähig
Marodes Material: Die Bundeswehr kann kaum ihre Zusagen an die Nato erfüllen
Peter Möller

Es klingt wie ein makabrer Scherz. Kurz nach dem 75. Jahrestag des Endes der Schlacht um Stalingrad in der russischen Winterhölle meldet das Heereskommando der Bundeswehr, daß es der Truppe an Winterbekleidung mangele.

Nicht nur den betroffenen Soldaten, sondern auch den Verteidigungspolitikern in Berlin ist angesichts dieser und zahlreicher anderer Alarmmeldungen das Lachen längst vergangen. Die Bundeswehr vermittelt derzeit den Eindruck einer Truppe am Rande des Zusammenbruchs, die auf einem Haufen Schrott sitzt. Und glaubt man dem internen Bericht des Heereskommandos, aus dem die Rheinische Post am Montag zitierte, müssen die Soldaten im Ernstfall nicht nur frieren, sondern sie haben auch kein Dach über dem Kopf. „Im Bereich bewegliche Unterbringung im Einsatz weist das Heer bis mindestens 2021 eine Fähigkeitslücke auf“, heißt es in dem Papier weiter. Bis 2020 gebe es einen Bedarf von 10.282 „Unterbringungseinheiten“ (Zelte) für die Truppe, derzeit stünden aber nur 2.500 zur Verfügung. Auch mangele es an Schutzwesten. Bereits in der vergangenen Woche hatten Berichte über den Zustand der Bundeswehr für Aufmerksamkeit gesorgt. So berichtete die Welt, daß das Heer derzeit Probleme habe, seine Zusagen an die Nato zu erfüllen. Demnach fehle es der Bundeswehr an einsatzbereiten Kampfpanzern, um wie geplant Anfang 2019 die Führung der schnellen Eingreiftruppe des Verteidigungsbündnisses zu übernehmen. Der für diese Aufgabe vorgesehenen Panzerlehr-brigade 9 in Munster stehen derzeit nur neun von 44 vorgesehenen Kampfpanzern des Typs Leopard 2 zur Verfügung, rechnete das Blatt vor. Nicht besser sehe es bei Schützenpanzern, Nachtsichtgeräten oder Granatmaschinenwaffen aus. In jüngster Zeit waren immer wieder Berichte über nicht oder nur begrenzt einsatzfähige Flugzeuge, Hubschrauber und Schiffe an die Öffentlichkeit gedrungen, die vor allem bei den Nato-Partnern für Verwunderung sorgen.

Auch wenn über den Zustand der Bundeswehr seit Jahren debattiert wird, dürfte es kein Zufall sein, daß diese Meldungen ausgerechnet jetzt in hoher Taktzahl in die Öffentlichkeit gelangen. Das Verhältnis der Bundeswehrführung zu Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) gilt seit der Debatte über tatsächliche und angebliche Skandale in der Truppe als zerrüttet. Beobachter in Berlin sehen in den immer neuen Horrormeldungen daher den Versuch aus den Reihen der Bundeswehrführung, angesichts der bevorstehenden Regierungsbildung eine zweite Amtszeit von der Leyens als Verteidigungsministerin zu verhindern.

Flachbildschirm auf Stube, aber keine Nachtsichtgeräte

Mittlerweile bläst ihr auch aus dem Parlament ein scharfer Wind entgegen. An diesem Mittwoch stand das Thema auf der Tagesordnung des Verteidigungsausschusses. Der SPD-Verteidigungsexperte Fritz Felgentreu forderte, das Gremium müsse sich schnell einen Gesamtüberblick über die materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr verschaffen. Derartige Versorgungslücken, zumal bei wichtigen Nato-Vorhaben, „können und werden wir nicht akzeptieren“, kündigt er an. Der CSU-Abgeordnete Florian Hahn verlangt ebenfalls, die Materiallücken zu schließen. Doch in Berlin wird darauf hingewiesen, daß sich die teilweise langjährigen Mitglieder des Gremiums fragen lassen müssen, warum sie nicht bereits viel eher Alarm geschlagen haben. 

„Die katastrophale Einsatzbereitschaft, die dazu führt, daß wir unsere Bündniszusagen nicht mehr erfüllen können, darf keinen Fachpolitiker überraschen“, sagte der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, der Welt. Auch von der AfD-Fraktion im Bundestag kommt Kritik. „Vor 30 Jahren hätte ein solcher Zustand eine Sondersitzung des Bundestages zur Folge gehabt. Heute hingegen scheint sich daran weder in der Bundesregierung noch in den Reihen der Regierungsparteien jemand ernsthaft zu stören“, wundert sich deren verteidigungspolitischer Sprecher Rüdiger Lucassen.

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz versuchte sich von der Leyen am vergangenen Wochenende mit dem Hinweis zu verteidigen, die jahrzehntelangen Versäumnisse bei der Ausstattung ließen sich nicht innerhalb von zwei Jahren aufholen. Und tatsächlich liegen die Ursachen für die jetzt akut werdenden Ausrüstungsmängel weit vor ihrem Amtsantritt. Doch die CDU-Politikerin hat mit ihren öffentlichkeitswirksamen Initiativen zur Ausstattung der Kasernen mit Flachbildschirmen und Konzepten für eine familienverträgliche Bundeswehr den Eindruck vermittelt, sie setze die falschen Schwerpunkte. Zwar hat von der Leyen mit der Ankündigung, die Einheiten sollten künftig wieder komplett mit dem notwendigen Material ausgestattet werden, bereits 2015 eine Trendwende bei der Ausstattung angekündigt. Doch an der Umsetzung hapert es, nicht zuletzt weil die Armee nach wie vor unterfinanziert ist.

Unterdessen bemüht sich das Verteidigungsministerium, dem Eindruck einer mangelnden Einsatzbereitschaft entgegenzuwirken. So versucht Ministeriumssprecher Jens Flosdorff den Ausfall von Panzern mit der wachsenden Zahl von Übungen in Vorbereitung auf den geplanten Nato-Einsatz zu erklären. Diese wirkten sich auf das Material aus. „Das kennen Sie selbst: Wenn Sie Ihr Auto plötzlich drei- oder viermal soviel benutzen wie vorher, dann muß es auch häufiger und früher in die Inspektion. Nicht anders ist es bei dem Gerät der Bundeswehr“, sagte er am Montag in Berlin. 

Auch angesichts solch hilflos wirkender Erklärungsversuche hat Bundeswehrverbandschef Wüstner nur halb im Scherz eine grundsätzliche Entscheidung angemahnt: „Die Kernfrage, die Politik parteiübergreifend beantworten muß, ist: Soll Deutschland wieder einsatzbereite Streitkräfte haben oder nicht? Wenn nein, schlage ich die Auflösung der Bundeswehr vor.“