© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/18 / 23. Februar 2018

Gegen die Selbstkastration
Hongkong: Die Opposition kann dem Druck aus Peking kaum noch etwas entgegensetzen
Hinrich Rohbohm

Der Treffpunkt ist überlegt gewählt. Jason möchte mit der JF an einem Ort reden, an dem sich viele Menschen aufhalten. Er wählte dafür Hongkongs berühmte Hafenpromenade von Tsim Sha Tsui auf der Halbinsel von Kowloon. Ein Ort, der Massen von Touristen anzieht, die von hier einen Panoramablick auf die Skyline von Hongkong Island haben. „Wir können im Gehen miteinander reden“, sagt Jason, der seinen echten Namen lieber „nicht genannt sehen“ möchte. 

Vor drei Jahren hätte er solche Vorsichtsmaßnahmen noch nicht getroffen. Damals stand er mit an der Spitze der sogenannten Regenschirm-Bewegung, setzte sich gegen die Einmischung des Pekinger kommunistischen Regimes in die Autonomie der Stadt zur Wehr. „Wir wollten Freiheit und Demokratie verteidigen“, sagt er. 

Oppositionelle werden systematisch ausgeschaltet

Der 22jährige ist ein enger Mitstreiter von Joshua Wong. Jenem Studenten, der die Proteste damals mit angeführt hatte. Hunderttausende gingen 2014 auf die Straßen Hongkongs, zelteten auf dem Asphalt von Hauptverkehrswegen wie Central, Causeway Bay oder dem Einkaufsviertel von Mong Kok. 

Drei Monate lang protestierte der vor allem von Studenten getragene Widerstand mit gelben Bannern und Plakaten, trotzte Wasserwerfern, Schlagstöcken und Tränengas. Gegen letzteres schützten sich die Demonstranten mit Regenschirmen, die zum Symbol der Bewegung werden sollten.

Jason ist stehen geblieben. Er nimmt seine Brille ab, putzt sie kurz, setzt sie wieder auf. „Ich möchte nicht auch noch ins Gefängnis“, entschuldigt er sich dafür, möglichst nicht viel von sich selbst preiszugeben. Nur wenige würden sich heute noch öffentlich zur Regenschirm-Bewegung bekennen. Der Mut von einst ist der Angst vor Bestrafung gewichen. Ende November 2014 war sein Mitstreiter und Vorbild Joshua Wong verhaftet worden. So wie zahlreiche weitere führende Widerständler.

Nach der Übergabe der einstigen britischen Kronkolonie an China hatte die Pekinger Zentralregierung der Stadt 50 Jahre Autonomie vertraglich zugesichert. „Ein Land, zwei Systeme“ lautete das Versprechen, an das sich China lange Zeit hielt. Bis 2007/2008 die Weltfinanzkrise begann. „Seitdem fürchten sie den Westen nicht mehr“, erklärt Jason. Es sei ein „schleichender Prozeß“, in dem das Rechtssystem Hongkongs zunehmend unterlaufen werde. 2011 hatte Peking an Hongkongs Schulen versucht, das Fach „Nationale und moralische Erziehung“ einzuführen.

2014 folgte der nächste Schritt. Peking begann die zugesagten freien Wahlen einzuschränken. Zwar dürften Hongkongs Bürger nach wie vor wählen. Die dafür zur Wahl stehenden Kandidaten werden aber nun in einer Vorauswahl von Peking bestimmt. „Das war der Auslöser für unsere Proteste und Straßenbesetzungen“, erklärt Jason. 

Weitere Nadelstiche gegen die Autonomie der Sieben-Millionen-Metropole sollten folgen. Anfang dieses Jahres beschloß die Zentralregierung, einen neu errichteten Bahnhof an der Hafenfront von Kowloon, der Hongkong mit dem Festland verbindet, der gesetzlichen Kontrolle des chinesischen Festlandes zu unterstellen. 

Der Beschluß sieht unter anderem die Stationierung von Beamten aus der Volksrepublik sowie chinesischer Polizei  anstelle von Personal aus Hongkong vor. Unter dem Motto „Landabgabe, Selbstkastration, Abschaffung der Macht ...“ demonstrierten Ende Dezember Pro-Demokratie-Aktivisten auf dem Gelände. 

Auch verordnete Peking verpflichtende Sprachprüfungen in der chinesischen Hauptsprache Mandarin, obwohl in Hongkong vor allem Kantonesisch gesprochen wird. Zwei Studenten der Baptist University waren im Streit darüber sogar von der Hochschule suspendiert worden. „Auch Hongkongs Polizei wird zunehmend von der chinesischen Zentralregierung infiltriert“, erzählt Jason. Das Personal werde zwar weiter von Hongkong gestellt. Jedoch sei es durch Korruption „gefügig gemacht.“

Er zeigt mit dem Finger auf die andere Seite des Wassers. Dorthin, wo die Wolkenkratzer von Hongkong Island in den Himmel ragen. „Das ist die Fassade. Glastürme und wirtschaftlicher Wohlstand. Aber daß hinter dieser Fassade unsere Freiheiten zunehmend beschnitten werden, sieht im Ausland kaum jemand“, beklagt der Student. 

Er spricht von Repressionen gegen Menschen, die dem kommunistischen Regime in Peking kritisch gegenüberstehen. Von zunehmenden Kontrollen und Willkür. „Immer weniger Menschen trauen sich noch, etwas Kritisches zu sagen.“ Die Demokratiebewegung von vor drei Jahren existiere zwar noch. „Aber sie dringt nicht mehr durch, die Leute haben Angst.“

Die Berichte zahlreicher europäischer Medien und das von ihnen oft verklärte Bild über die Situation in China ärgere ihn. „Da ist davon die Rede, daß im neuen China nun die Marktwirtschaft herrscht und daß der Kommunismus nur noch formal existiert. Das ist entweder unglaublich naiv oder vorsätzlich falsch dargestellt. Haben diese Leute jemals einen Blick in chinesische Gefängnisse geworfen? Bekommen sie überhaupt mit, wie politisch Andersdenkende hier ausgeschaltet und verschleppt werden?“

Im Oktober 2015 war der Hongkonger Buchhändler Gui Minhai während eines Thailand-Urlaubs plötzlich verschwunden. Seine Familie vermutet, daß er von chinesischen Agenten verschleppt wurde, weil er in Hongkong  kritische Bücher über das kommunistische Regime in China herausgegeben hatte. Peking dementierte nicht, schwieg statt dessen lange darüber, ihn in Haft gehalten zu haben.

Pikant dabei: Der 53jährige ist schwedischer Staatsbürger. Und einer von drei Aktionären des Buchladens Causeway Bay Books, ein bei den demonstrierenden Studenten beliebter Anlaufpunkt. Später erschien in den staatlich gelenkten chinesischen Medien ein äußerst seltsames Video von Gui Minhai, in dem er erklärte, er habe sich freiwillig den Behörden ergeben und wolle auf seinen Schutz als schwedischer Staatsbürger verzichten. 

Die Begründung für seine Festnahme: Er soll seit Oktober 2014 wissentlich Bücher verteilt haben, die nicht von Chinas Presse- und Publikationsbehörde genehmigt worden seien. Vor einigen Wochen ist er erneut verhaftet worden. Die EU-Vertretung in Peking versuchte bisher vergeblich, seine Freilassung zu erwirken. 

Der Ablehnungsgrund klingt zynisch. Ausländische Regierungen, so die Stellungnahme Chinas, die ihre eigenen Bürger schützen wollen, sollten diese zunächst erziehen. Die Gesetze des Gastlandes seien zu respektieren. Doch welche Gesetze sind hier gemeint? Würde „Ein Land, zwei Systeme“ weiter existieren, müßte für Gui Minhai die Pressefreiheit gelten. 

Er ist kein Einzelfall. Noch vier weitere Buchhändler von Causeway Bay Books waren urplötzlich verschwunden. Der Buchhändler Lee Boo hatte die Medien noch über das Verschwinden seiner vier Kollegen informiert. Bis schließlich auch er spurlos verschwand. 

Der damalige Hongkonger Regierungschef Leung Chun-ying hatte dies öffentlich als „inakzeptabel“ und als Gesetzesverstoß kritisiert. Doch „CY“, wie der Multimillionär genannt wird, steht  bei den Anhängern der Regenschirm-Bewegung selbst im Verdacht, ein „geheimes Mitglied“ der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) zu sein. So behauptet die ehemalige Kommunistin Florence Leung Mo-han, CY sei schon früh Mitglied der KPC gewesen, sein politischer Aufstieg in Hongkong von der Partei systematisch gefördert worden. Seine Antrittsrede als erster Regierungschef Hongkongs 2012 hatte er auf Mandarin statt auf Kantonesisch gehalten. 

Ein Traditionsbruch. Das KPC-Presseorgan Renmin Ribao jubelte, daß nun „Genosse Leung“ die Geschicke der Stadt lenke. Während der Massenproteste im Herbst 2014 hatten die Demonstranten insbesondere seinen Rücktritt gefordert. Im Juli vorigen Jahres wurde Carrie Lam zur neuen Regierungschefin Hongkongs gewählt, ein Ziehkind von CY, dessen Chefsekretärin sie zuvor war. Auch Lam steht aufgrund ihrer Peking-Nähe in der Kritik der Regenschirm-Bewegung, aus deren Mitte einige die Partei „Demosisto“ ins Leben riefen, um für das Parlament zu kandidieren. 

Zunächst mit Erfolg. Nathan Law, ein ehemaliger Mitstreiter von Jason, errang ein Mandat – das er kurze Zeit später wieder abgeben mußte. Ein Gericht entschied: Law habe seinen Amtseid nicht glaubwürdig abgelegt. Am 11. März soll es nun Nachwahlen geben. Mit Agnes Chow wollte eigentlich eine weitere Anhängerin der Regenschirm-Bewegung kandidieren. Doch die Reaktion der Wahlkommission ließ nicht lange auf sich warten. Chow werde von der Abstimmung ausgeschlossen, verkündete sie. Die Begründung: Sie sei ungeeignet, da sie sich für die Unabhängigkeit von China eingesetzt habe.