© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/18 / 23. Februar 2018

Von Grenzen und Grenzhoheit
Besser als ihr Ruf
Ulrich March

Grenzen erfreuen sich im Zeitalter der Globalisierung keines besonders guten Rufes. Vielfach betrachtet man sie nur als Hindernis auf dem Weg zu immer mehr menschlicher Gemeinschaft und verlangt, sie flexibler und durchlässiger zu gestalten, sie zu öffnen, zu überwinden oder schlicht ganz abzuschaffen. Stutzig machen bei diesen Forderungen die Einhelligkeit, das Pathos und die Unbekümmertheit, mit der sie erhoben werden. Wenn beispielsweise auf dem Höhepunkt der deutschen Flüchtlingskrise zur Rechtfertigung der Regierungspolitik von höchster Stelle erklärt wird, man könne Grenzen heute nicht mehr schließen, so bedeutet das den bewußten Verzicht auf Ausübung zentraler staatlicher Hoheitsrechte und damit letztlich die Preisgabe von Staatlichkeit überhaupt.

Solche und ähnliche Äußerungen machen deutlich, daß mit gewissen gängigen Vorstellungen einiges nicht stimmen kann, und geben Anlaß, sich auf etwas differenziertere Weise mit Wesen und Funktion von Grenzen auseinanderzusetzen. Das Wort „Grenze“, ein aus dem Slawischen stammendes Lehnwort (altpolnisch „granitza“), geht um die gleiche Zeit in die deutsche Sprache über, in der sich ein tiefgreifender Verfassungswandel vollzieht. Der „Personenverbandsstaat“, das für Nord- und Mitteleuropa bis zum Spätmittelalter typische Gemeinwesen, kennt keine linearen Grenzen. Zwischen den Siedlungsgebieten der Völker und Stämme erstrecken sich vielmehr weite, kaum bewohnte Gebirgs-, Sumpf-, Moor- oder Urwaldzonen; die alt- und mittelhochdeutsche Bezeichnung dafür lautet „Mark“. Bereits Cäsar und Tacitus erwähnen diese zwischen den Siedlungsgebieten der germanischen Stämme und Völker liegenden Ödmarkenzonen. Die Nachricht, daß große Marken das Ansehen eines Stammes erhöhten, spricht dafür, daß Grenzen in politischer Hinsicht schon damals identitätsstiftend gewirkt haben.

Im ausgehenden Mittelalter tritt an die Stelle des Personenverbandsstaates der „institutionelle Flächenstaat“, der sich durch die Kriterien Staatsvolk, geschlossenes Staatsgebiet und einheitliche Staatsgewalt definiert und der für sich das Monopol auf legitime Gewaltausübung in Anspruch nimmt. Damit ändern sich innere Struktur und Außengrenzen grundlegend: Die Staatshoheit wird sowohl in sachlicher als auch in räumlicher Hinsicht stark ausgeweitet und erstreckt sich nunmehr auch auf Ödland, Wälder und Marken. Das alte „Volksrecht am Unland“, das jedermann die Nutzung von Wäldern und Mooren gestattete, weicht der staatlichen Forsthoheit, die Ödmarkengrenze der Grenzlinie, die Nachbarstaaten punktgenau voneinander trennt und von deren Organen, Zoll und Grenzpolizei, gesichert, überwacht und kontrolliert wird. 

Indem der moderne Staat Gewalttätigkeit im Inneren generell kriminalisiert und von außen kommende potentielle Täter gegebenenfalls am Grenzübertritt hindert, hat er viel zum Schutz seiner Bürger und damit zur Verhinderung von Leid beigetragen.

Das bis dahin als Niemandsland angesehene Gebiet wird siedlungs- und verwaltungsmäßig erschlossen. Es spielt aber in politischer Hinsicht mitunter eine eigene Rolle, so etwa die bayerische Ostmark („Mark Ostarrichi“), die Mark Brandenburg und die Mark Meißen, Territorien, die in den Bundesländern Ober- und Niederösterreich, Brandenburg und Sachsen bis zum heutigen Tag weiterleben.

Der neue Staatstyp hat den Menschen erheblich mehr Sicherheit vor inneren oder von außen her drohenden Gefahren gebracht. Da zuvor, etwa im Zusammenhang von Fehde und Blutrache, Selbstjustiz bei Beachtung bestimmter Rechtsformen durchaus legal war, konnten Personen und Personenverbände, also etwa alle Einwohner einer Stadt, jederzeit Opfer von Gewalttätigkeit werden, und da die Ödmarkengrenzen völlig ungesichert waren, konnten jederzeit nicht nur Hergelaufene und fahrendes Volk, sondern auch bewaffnete Gefolgschaften und organisierte Banden, Räuber und Mordbrenner von außen her eindringen.

Indem der moderne Staat, ob Monarchie, Diktatur oder demokratischer Rechtsstaat, Gewalttätigkeit im Inneren generell kriminalisiert und von außen kommende potentielle Täter gegebenenfalls am Grenzübertritt hindert, hat er viel zum Schutz seiner Bürger und damit zur Verhinderung menschlichen Leides beigetragen; schon aus humanitären Gründen erscheint daher jede Durchlöcherung oder Aushöhlung von Staatlichkeit überaus fragwürdig.

An die Stelle vom Recht des Stärkeren sind im Laufe der Neuzeit – wenn auch nicht überall in vollem Umfang verwirklicht – Rechtsstaatlichkeit, Selbstbestimmung und Menschenrechte getreten. Der moderne Flächenstaat und die mit ihm eng verbundenen Lineargrenzen haben überdies in hohem Maße identitätsstiftende Wirkung entfaltet, insbesondere überall dort, wo unterschiedlich entwickelte Gebiete aneinandergrenzten. Anschauliche Beispiele dafür bieten etwa die Balkanhalb­insel, wo die habsburgisch-osmanische „Militärgrenze“, oder Nordamerika, wo die westliche „frontier“ der jungen Vereinigten Staaten jeweils legendäre Bedeutung erlangt hat.

Im Zeitalter des Nationalstaats, seit Beginn des 19. Jahrhunderts, werden Grenzen dann geradezu mythisch überhöht, so etwa die Rheingrenze, die von den Franzosen mit gleichsam naturrechtlicher Begründung („limites naturelles“) gefordert wird, während die Deutschen den romantisch verklärten Rhein als „Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze“ ansehen; mit dem Aufruf zur „Wacht am Rhein“ wird an die nationale Identität appelliert. Auch weniger bedeutsame Grenzen entwickeln damals identitätsstiftende Wirkung, so etwa die Holstein und Schleswig trennende Eider für die Dänen („Eiderdänentum“).

Auch noch die Grenzänderungen nach den beiden Weltkriegen haben beträchtliche Auswirkung gehabt. Die territorialen wie die sonstigen Bestimmungen des Versailler Vertrags beschädigen das Ansehen der Weimarer Republik von vornherein und werden maßgeblich zu deren Schwäche und Untergang beitragen. Die Oder-Neiße-Grenze betrifft dann Deutsche wie Polen in starkem Maße: Erstere verlieren damit ein Viertel ihres Siedlungsgebiets und die dort in sieben Jahrhunderten geschaffenen materiellen und geistigen Werte, letztere müssen ihr neues Staatswesen zum guten Teil auf bisher fremdem Gebiet errichten.

Die Forderung nach Öffnung von Grenzen geht ins Leere, die Forderung nach gänzlicher Aufhebung ist sachlogisch unhaltbar. Grenzen sind ihrem Wesen nach passierbar und damit im Prinzip „offen“, es fragt sich nur, für wen und zu welchem Tun.

Dabei sehen sie sich vor die Aufgabe gestellt, gewichtige, in sich geschlossene Regionen wie Schlesien mitsamt seiner Hauptstadt Breslau zu integrieren und sich überdies einen Großteil der südlichen Ostseeküste zu erschließen, obwohl sie in ihrer bisherigen Geschichte allenfalls punktuellen Zugang zum Meer hatten. Hinzu kommen die menschlichen Auswirkungen dieser neuen Grenzziehung: Millionen Deutsche und Polen sind auch in persönlicher Hinsicht als Vertriebene oder als Neusiedler existentiell betroffen.

Überraschenderweise entwickelt sich die Einschätzung von Grenzen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts genau gegenteilig. War man ehedem geneigt, ihnen einen hohen Stellenwert beizumessen, so verlieren sie zumindest im öffentlichen Bewußtsein seither mehr und mehr an Bedeutung. Gewiß erklärt sich dies zum guten Teil als Reaktion auf die Katastrophe der Weltkriege und durch den Umstand, daß Menschen und Völker infolge der Entwicklung von Kommunikation, Wirtschaft und Verkehr immer enger zusammenrücken. Pauschale Grenzverdammung verkennt jedoch, daß es auch im Zeichen der „One-World“-Idee nach wie vor Unterschiede zwischen Menschen und Menschengruppen gibt und weiterhin geben wird.

Die Forderung nach Öffnung von Grenzen geht ins Leere, die nach gänzlicher Aufhebung ist sachlogisch unhaltbar. Grenzen sind ihrem Wesen nach passierbar und damit im Prinzip „offen“, es fragt sich nur, für wen und zu welchem Tun. Einzelheiten und den Grad der Durchlässigkeit bestimmen ausschließlich die Nachbarstaaten. Sie können sogar ihre völlige politische Vereinigung beschließen; aus Staatenbünden können Bundesstaaten werden. In diesem Fall geht die Staatshoheit und damit die Verpflichtung zur Grenzkontrolle nahtlos auf das größere Staatsgebilde über – der Welteinheitsstaat bleibt vorerst und vermutlich für alle Zeiten Utopie.

Die Menschheit ist auf vielfältige Weise gegliedert: in persönlicher und sozialer, kultureller und politischer Hinsicht. Die Grenzen zwischen den jeweils eigentümlichen Gruppierungen sind einmal objektiv vorgegeben, etwa durch genetische Disposition und durch familiäres, sprachliches oder sonstiges Umfeld, zum anderen aber auch im Gruppenbewußtsein verankert, da man allgemein bestrebt ist, das jeweils „Eigene“ vom jeweils „Anderen“ auch in der subjektiven Wahrnehmung zu trennen und deutlich voneinander abzugrenzen. Identität ist ohne Grenzen nicht vorstellbar, politische Identität nicht ohne Staatsgrenzen. 






Dr. Ulrich March, Jahrgang 1936, war im schleswig-holsteinischen Schul- und Hochschuldienst tätig, zuletzt als Leiter eines Gymnasiums. Von 1973 bis 1999 war March Sektionsleiter der Schleswig-Holsteinischen Universitäts-Gesellschaft. Als Landeshistoriker veröffentlichte er zur deutschen und europäischen Geschichte, insbesondere zur historischen Landeskunde (unter anderem „Kleine Geschichte deutscher Länder“, 2006). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Herrschaftsformen in Geschichte und Gegenwart („Demokratie – eine Fiktion“, JF 33/17).

Foto: Verlassener Grenz-posten am Umbrailpaß, dem Wormser Joch, zwischen Italien und der Schweiz zur Zeit des Ersten Weltkriegs: Wenn von Regierungsseite erklärt wird, man könne Grenzen heute nicht mehr schließen, so bedeutet das den bewußten Verzicht auf Ausübung zentraler staatlicher Hoheitsrechte ­– und damit letztlich die Preisgabe von Staatlichkeit überhaupt