© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/18 / 23. Februar 2018

Gefangen in der westlichen Glaubenskirche
Der italienische Kommunist Domenico Losurdo liest der verführten One-World-Linken die Leviten
Eberhard Straub

Die Linke im Westen hat jede geistige Selbständigkeit verloren. Sofern Linke überhaupt noch im Lärm der aufgeregten Zeit auffallen, dann wegen ihrer Konfusion, Desorientierung und Hilflosigkeit. Beschwingt von den Verheißungen der atlantischen Wertegemeinschaft, erübrigen sich für sie Fragen und damit auch die Suche nach Antworten. In der besten aller Welten freuen sich auch Linke ihres Lebens. Denn in einer total verwestlichten Welt werden endlich alle Menschen zu Brüdern und genießen das Glück übereinstimmender Gemüter. Beseligende Einfalt verdrängt die verwirrende Vielfalt. In der „Einen Welt“ begegnet jeder auf dem einen, unbegrenzten Markt der Möglichkeiten dem anderen wie seinem Ebenbild als Bruder.

Solch unbeschwerte Daseinslust – die Welt als Traum – beunruhigt den kommunistischen Philosophen, Dialektiker und Historiker Domenico Losurdo. Mit seinem Buch „Wenn die Linke fehlt“ unternimmt er eine gründliche Analyse dieser nicht nur für ihn, sondern für jeden Freund geistiger Freiheit besorgniserregenden Situation. Denn was wäre, wenn die Linke in einer gleichgeschalteten Gesellschaft dröhnenden Spektakels fehlte, die trotz dauernder Kriege und Krisen, moralisch hoch aufgerüstet, nicht an sich irre wird?

Er prangert nicht den Opportunismus unsicher gewordener Linker an und verzichtet erst recht auf romantische Appelle revolutionärer Zielstrebigkeit. Domenico Losurdo folgt vielmehr dem immer unbequemen Auftrag Hegels: erkenne die Lage, an den sich Marx, aber auch Nietzsche hielten, über den er ein längst klassisch gewordenes Werk verfaßt hat. Die Linken kapitulierten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Kommunismus vor der offenbar unaufhaltsamen Überlegenheit des Kapitalismus, der sich demokratischer Formen bedient zum Vorteil einer umfassenden Marktfreiheit, in der sich menschliche Freiheit vollende. 

Postlinke ersetzten Denken durch westliche Gesinnung

Die Marktfreiheit ist das summum bonum, das höchste Gut, eine von allen Übeln erlösende Macht wie einst der christliche, indessen im Ideenmülleimer entsorgte Gott. Der Repräsentant dieser Welterlösung sind die USA, die unersetzliche Nation, auf die es deshalb ankommt. Sie ist in der Geschichte dazu auserwählt worden, die gesamte Welt zu amerikanisieren und das Ende der Geschichte zu bewirken, wenn alle zu Amerikanern geworden sind beziehungsweise die ganze Welt nur noch „Westen“ ist. So lautet das Selbstverständnis der leuchtenden Stadt auf dem Berge, die dazu verpflichtet ist, alle aus dem selbstverschuldeten Dunkel ihrer vielen Vorurteile und des Eigensinns zu befreien. 

In diese neue, innerweltliche Heilgeschichte als dauernde Verwestlichung aller noch unzulänglicher Menschen, die erst als totaler Westmensch zu beglückender Lebenstotaliät finden, schickten sich ratlose Linke. Jürgen Habermas, Norberto Bobbio, Giorgio Agamben oder Slavoy Zizek, um nur die einflußreichsten, zu weiter Prominenz gelangten Postlinken zu nennen, ersetzten Denken durch westliche Gesinnung. Sie wollen unter keinen Umständen als  Don Quijote einer von „der Geschichte“ widerlegten Philosophie gelten und verspotten daher jeden, der sich nicht seit 1989 von der damals recht aktiven Geschichte belehren ließ. Die enttäuschten Linken, vor allem die ganz harmlosen, die nur andere für sich denken ließen und Mitläufer waren, fügten sich in ihre Niederlage, horchten auf ihre Sieger und begannen damit, sich umzurüsten und an sich zu arbeiten. 

Sie fanden rasch durch aufgeschlossene politische Weiterbildung den Anschluß an die allerneueste Neuzeit.  Nicht die Partei oder Hegel oder Marx und Engels haben immer recht. Dieser Imperativ war zu einseitig, zu engstirnig, zu machiavellistisch und machtpolitisch, überhaupt zu politisch. Die wahre Welterlösung und Befreiung von allen niedrigen und widrigen Interessen ereignet sich erst in der atlantischen Wertegemeinschaft, geführt von den USA. Selbst wenn immer wieder amerikanische Präsidenten und Generale bevorzugt US-Interessen scharf im Auge behalten, hat das nichts mit weltfremdem Egoismus zu tun, wie allgemein beteuert wird. Die Interessen der Menschheit sind vielmehr untrennbar mit den Interessen der USA verbunden, dem Agenten des Weltgeistes und sämtlicher Werte. Daher haben die USA immer recht, und wer sie im Unrecht wähnt, macht sich antiamerikanischer und unamerikanischer Umtriebe verdächtig und bestätigt, wertverwahrlost zu sein. 

Totale Mobilmachung der Wertegemeinschaft

Domenico Losurdo, der Philosoph und Historiker, bemüht sich, Linke daran zu erinnern, daß sie einmal politisch dachten und nicht als wertfühlende Subjekte wertvolle Stimmungen pflegten und zergliederten, sondern von Recht und Unrecht sprachen, von Gewalt und berechtigter Gegengewalt, von Gesinnungsterror und schrecklicher Demütigung in kolonialer Abhängigkeit gehaltener Völker. Losurdo, der Poststalinist, kann nur staunen, daß im Umgang mit den USA auch für die sich selbst als links verstehenden Meisterdenker nur ehrfürchtiges Staunen vor diesem Agenten des Weltgeistes übrigbleibt, auf den wir einfach vertrauen müssen. Die sogenannten Linken wollen nichts von Rechtsbrüchen, Gewalttätigkeiten, von der Brutalität neokolonialer Improvisationen der USA hören, gar von deren Imperialismus. Die USA wissen einfach, was der Menschheit frommt und können es weltweit mit Bomben und Regimewechseln erzwingen. Eine Wertegemeinschaft kann überhaupt nicht auf drastische erzieherische Maßnahmen verzichten. Sie braucht Entrüstung, sie braucht Entsetzen, den medialen Empörungsterrorismus, der von den USA und ihren Satrapen beliebig hergestellt werden kann, um die Zuschauer jeden Krieg am Bildschirm beim Abendessen als höchst befriedigendes, ihn sittlich bestätigendes Theater erleben zu lassen. 

Der inszenierte Empörungsterrorismus der USA und ihrer Vasallen in der EU und Nato ist jeweils notwendig, um die totale Mobilmachung der Wertegemeinschaft zu gewährleisten und vor Zweifeln an ihrer Effizienz zu bewahren. Die Nato und die westliche Wertegemeinschaft sind eine Glaubensgemeinschaft. Dissidenten werden ohne Rücksicht auf das Recht verfolgt, die Werte stehen über dem Recht und sind eine Waffe. Im Namen der Werte begreifen die USA und die Nato die gesamte Welt als Interventionsraum, um ihren Vorstellungen absolute Geltung zu verschaffen, also ihren Interessen. Sie treten als neokolonialistische Imperialisten auf, die rücksichtslos westlichen Lebensmodellen, dem american way of life, als der einzigen Möglichkeit, Menschenwürde und Menschenrechte voll entfalten zu können, allgemeine Geltung verschaffen wollen. Was nicht westlich und amerikanisch ist, muß unbedingt aussortiert und eliminiert werden. Wann trifft diese Aufforderung – zumindest in einem Deutschland, das sich nur als Westdeutschland zu begreifen vermag, dem freiesten Staat, den es je auf deutschem Boden gab, wie verwestlichte Menschen zwischen Rhein und Elbe unermüdlich beteuern – den tapferen Domenico Losurdo? 

Domenico Losurdo: Wenn die Linke fehlt ...  Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg. PapyRossa Verlag, Köln 2017, broschiert, 373 Seiten, 19,90 Euro