© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/18 / 02. März 2018

Gern gehört, doch selten gewürdigt
Unvergeßlicher Gesang: Opernchöre sind wichtiger als die meisten denken
Markus Brandstetter

Herausragende Operntenöre, die mühelos das hohe c erreichen, glockenhelle Koloratursoprane, die in der Arie der Königin der Nacht das dreigestrichene f insgesamt siebenmal frei und souverän attackieren können – solche Stars liebt die Opernwelt. Und auch die Dirigenten großer Opernaufnahmen kennt der Musikliebhaber längst ebenso wie namhafte Regisseure, die Opern – im Idealfall – nicht verhunzen, sondern dem Zuschauer neu, frisch und anders darbieten. Nur die Namen und die Bedeutung der wichtigsten Opernchöre der Welt, die kennen schon viel weniger Menschen. Da müssen oft auch eingefleischte Liebhaber passen. 

Dabei sind viele Opern ohne Chöre gar nicht denkbar. Nehmen wir nur Mozarts „Idomeneo“, eine vom Charakter her typische und, was das Libretto betrifft, bereits zu Mozarts Lebzeiten altmodische Opera Seria, die man aber durchaus als Chor-Oper bezeichnen kann. Insgesamt neun, zum Teil große Chorszenen mit Soli enthält das Werk, welches ohne die – an die griechische Tragödie angelehnte – kommentierende Funktion des Chors nicht denkbar wäre. Vielleicht noch bekannter ist der Chor der Priester aus der Zauberflöte, in dem diese Isis und Osiris anrufen.

Der nächste Komponist der Wiener Klassik, der eine Oper mit unvergeßlichen Chören komponiert hat, war Beethoven, in dessen einziger Oper „Fidelio“ dem Chor der Gefangenen eine herausragende Bedeutung zukommt. Der belgische Dirigent und Musikwissenschaftler Jan Caeyers schreibt in seiner herausragenden Beethoven-Biographie: „Der Chor der nach Freiheit dürstenden Gefangenen ist so schön, daß diese Menschen gar keine Verbrecher sein können; offensichtlich sind sie alle zu Unrecht eingekerkert.“ In Beethovens „Fidelio“ wird der Chor also zu einem konstituierenden Element der Handlung, ohne den der Zuschauer die Oper nicht verstehen würde.

Verdi und Wagner lieferten sich ein Wettrennen

Nicht weniger wichtig ist der Opernchor in Carl Maria von Webers „Freischütz“ – auch da ist die Handlung ohne den Chor nicht zu begreifen. Wenn die Jäger im „Freischütz“ singen: „Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen? Ist fürstliche Freude, ist männlich Verlangen, erstärket die Glieder und würzet das Mahl“, dann legen diese Jäger damit das Ethos von Jagd und Männlichkeit fest, gegen das Max, der jugendliche Held der Oper verstößt, als er mit dem Teufel, der im Freischütz Samiel heißt, einen Pakt schließt.

Als der „Freischütz“ am 18. Juni 1821 im Berliner Schauspielhaus uraufgeführt wurde, waren zwei Komponisten, die im selben Jahr (1813) geboren wurden, noch Kinder – Kinder, die einmal die bedeutendsten und beliebtesten Opernchöre aller Zeiten schreiben sollten: Richard Wagner und Giuseppe Verdi.

Den Anfang machte im März 1842 Giuseppe Verdi, der früher zu Ruhm gelangte als sein deutscher Kollege, mit dem Gefangenenchor aus der Oper „Nabucco“. Dem Gesang der in Babylonien gefangenen Hebräer unterliegt eine große Melodie, die jeder Mensch kennt – auch wenn er oder sie sich nicht für klassische Musik interessiert. Die erste Textzeile: „Va, pensiero, sull‘ali dorate“ („Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen“) wurde in Italien zum Sprichwort, Text und Melodie fungierten während des Risorgimentos, also der zwischen 1815 und 1870 sich abspielenden Vereinigung der italienischen Einzelstaaten zu einem Nationalstaat, als inoffizielle Nationalhymne der herbeigesehnten italienischen Republik.

Wagner zog im Januar 1843 mit dem Matrosenchor („Steuermann! Laß die Wacht! Steuermann! Her zu uns!“) aus dem dritten Akt seiner Oper „Der fliegende Holländer“ nach. Und von nun an lieferten sich beide Komponisten über Jahrzehnte ein Wettrennen mit dem Thema: Wer schreibt den schönsten und großartigsten Opernchor? – auch wenn den beiden Meistern das so natürlich nicht bewußt war.

Wagner legte bereits 1845 mit „Tannhäuser“ nach, eine Verbindung der deutschen romantischen Oper mit der französischen Grand Opéra nach dem Vorbild Meyerbeers, die insgesamt vier Chorszenen enthält, von denen zwei zu den größten der Operngeschichte zählen: der Einzug der Gäste auf der Wartburg („Freudig begrüßen wir die edle Halle“) und der Chor der Rompilger aus dem dritten Akt („Beglückt darf nun dich, o Heimat, ich schaun“), ein melodisch genialer Einfall, mit dem Wagner in einem feierlichen Bläsersatz die Ouvertüre eröffnet.

Weiter geht es fünf Jahre später mit dem „Lohengrin“ – und das ist jetzt eine richtige Chor-Oper, in der die Damen und Herren des Chors fast andauernd singen und die Handlung der Oper mit oft schneidender Kritik kommentieren. Im „Lohengrin“ erfüllt der Chor keine dekorative Funktion mehr, die eine einzelne Gruppe charakterisieren kann – nein, hier greift Wagner auf den Chor der griechischen Tragödie zurück, der die Aufgabe hat, die herrschende Moral auszudrücken und Abweichungen davon zu kritisieren. „Lohengrin“ enthält im dritten Akt eine von Wagners bekanntesten Melodien überhaupt, den vom Chor gesungenen Hochzeitsmarsch, der mit den Worten beginnt, die zu einer festen Wendung wurden: „Treulich geführt ziehet dahin.“

Vom Dekorativen zum Dramatischen

In seiner schwersten Zeit, den 20 Jahren nach „Lohengrin“ und vor dem „Rheingold“, während derer Wagner Werke komponiert, deren Aufführung in den Sternen steht, hochverschuldet kurz vor dem Selbstmord steht und nur das unerwartete Eingreifen des Bayernkönigs Ludwig II. ihn rettet, schreibt Verdi Oper um Oper, mit denen er zum größten Komponisten von Opernchören aller Zeiten wird. Und genau wie bei Wagner entwickeln sich auch Verdis Opernchöre immer öfter weg vom Dekorativen hin zum Dramaturgischen. In „Rigoletto“ macht sich der Chor der Höflinge zu Mitverschworenen des Herzogs von Mantua, in der „Traviata“, einer von mehreren Verdi-Opern, die mit einem Choreinsatz beginnt, stellen die Mitglieder des Chores die angeblich so gute Gesellschaft dar, die mit der Titelheldin Violetta rauschende Feste feiert, sie jedoch, als sie gegen die Konventionen verstößt, allein zugrunde gehen läßt. Lediglich im Zigeunerchor aus dem „Troubadour“ („Vedi! le fosche notturne“ „Seht, wie die Wolken am Himmel ziehen“) stellt Verdi nochmals das Dekorative über das Dramaturgische, aber mit welch herrlicher Melodie.

Einige der meistgeliebten Opernchöre stammen aus der Feder französischer Komponisten. In Gounods Faust-Oper „Margarete“ sind das einmal der ein bißchen konventionelle Soldatenchor, viel mehr aber die große Walzerszene am Ende des ersten Aktes, in der Faust zu mitreißenden – und sehr unhistorischen – Walzerklängen Margarete kennenlernt („Ne permettez-vous pas ma belle demoiselle“ „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“). Ebenso aufgeladen mit erotischer Spannung ist die Habanera der Carmen aus Bizets gleichnamiger Oper, in der Carmen vom Chor begleitet lasziv und verführerisch mitteilt, daß die Liebe ein rebellischer Vogel sei („L‘amour est un oiseau rebelle“).

Und so wichtig die Chöre in Opern sind, so wichtig sind auch die Mitglieder des Chores selbst, die – bei allen großen Opernchören stimmlich bestens ausgebildet – über erhebliche Sänger- und Schauspielerqualitäten verfügen. Insbesondere die Anforderungen an die darstellerischen Fähigkeiten der Chorsänger haben in den letzten Jahrzehnten exponentiell zugenommen. In modernen Inszenierungen müssen sie halb und ganz nackt in allen möglichen und noch mehr unmöglichen und auch noch unbequemeren Lagen singen, nicht selten vollkommen lächerliche Kostüme tragen, und mit dem statischen Stehen an der Rampe ist es schon lange vorbei. Die Mitglieder von Opernchören sind heute extrem fähige Sänger-Schauspieler, ohne die moderne Operninszenierungen gar nicht möglich wären. Das wird zu selten gewürdigt.