© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/18 / 02. März 2018

Kindheitsträume werden wahr
Ob Adrenalin-Kick oder Luxus pur: Eisenbahnen sind so unterschiedlich wie ihre Passagiere
Verena Rosenkranz

Tonnenschwere Waggons setzen sich in Bewegung, ein Pfeifen und Zischen kündigt die Abfahrt des nächsten Zuges an, beladen mit winkenden Passagieren, Geschäftsreisenden oder Erlebnishungrigen. Der Traum einer Spielzeugeisenbahn unter dem Weihnachtsbaum begleitet viele bis ins Erwachsenenalter und über alle Kulturräume hinweg. Während nicht nur im asiatischen Raum der Zug als Transportmittel für Tausende Pendler nicht mehr wegzudenken ist, stellt er für die in den langersehnten Ruhestand geschickten beziehungsweise gut verdienenden Europäer und Nordamerikaner oder abenteuerlustige Heranwachsende das langersehnte Symbol der Freiheit dar. 

Mit Rucksack oder Nobelkoffer, aber stets mit Fotoapparat ausgestattet besteigen sie ihre Urlaubsunterkunft auf Schienen. Die einen in der Luxus- und die anderen in der Holzklasse. Zu sehen bekommen aber beide Reisetypen etwas Unbezahlbares: fremde Welten, neue Eindrücke und Begegnungen mit völlig unterschiedlichen Menschen. Nicht immer ist die Bahnfahrt auch wirklich der komfortabelste Weg zu reisen. 

Im Sommer mit der Deutschen Bahn beispielsweise oder im Winter in der vierten Klasse der Transsibirischen Eisenbahn kann es schon ungemütlich werden. Aber dennoch gilt: „Wer eine Reise tut, kann was erzählen.“ Und selbst wenn man sich die üppige Vollversorgung in den mondänen Bordrestaurants, die jedes Flugzeugmenü selbst in der ersten Klasse in den Schatten stellt, nicht leisten kann, erlebt man in Zügen – sogar oder gerade in den unbequemsten Situationen – die denkwürdigsten Ereignisse.

Ein solches löst bei mutigen Bahnfahrern spätestens in Indien eine ziemlich hohe Herzfrequenz aus. In ganz und gar nicht dem europäischen Standard entsprechenden Zügen geht es entlang des „Nilgiri Blue Mountain Railway“ über zahlreiche Kurven ein Gebirgsmassiv hinauf bis zur Bergstation von Ooty. Über Aquädukte und alte Bergstädte hinweg führt die Bahnstrecke sogar über Felsvorsprünge, die gerade einmal so breit sind wie der Zug selber. 

Konkurrenz bekommt die Strecke nur noch von der sogenannten „Eisenbahn des Todes“ zwischen Bangkok und der Brücke am Kwai in Richtung Nam Tok. Und zwar zu Recht: auf der einen Seite die senkrechte Bergwand, nur wenige Zentimeter zwischen Zug und Fels, und auf der anderen Seite ein steiler Abgrund, Hunderte Meter darunter der Fluß. Hat man weder Platz- noch Höhenangst und vertraut den thailändischen Stahlkonstruktionen, wird man dafür mit einem Einblick in die unberührte Natur des Landes belohnt, die mit keinem Auto oder Flugzeug zu entdecken wäre. Ähnlich wie bei einer Fahrt mit dem „Tren a las Nubes“, dem argentinischen Wolkenzug, der auf 4.200 Höhenmetern wie auf Wolken zu fahren scheint, wenn er steile Täler auf dünnen Brücken überquert.

Über den Wolken oder in unberührter Wildnis

Weniger Adrenalin wird während der Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn oder auch dem „Zarengold-Sonderzug“ ausgelöst. Ursprünglich wurde die Strecke zwischen Moskau und Wladiwostok aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Versorgung des riesigen Landes angelegt. Innerhalb von nur zwölf Baujahren wurde die 9.200 Kilometer lange Bahnstrecke aber zum Prestigeobjekt des Zarenreiches und verbindet heute Europa sogar mit dem Pazifischen Ozean und Peking im äußersten Osten. Auf der über zwei Wochen dauernden Fahrt lösen vor allem der Baikalsee, unüberschaubare Gasfelder, Goldminen oder nach dem Permafrost aufgetaute Landstriche und dadurch flexible Eisenbahnstützen großes Staunen aus. Wer es gesellig mag, bucht für wenig Geld in der vierten Klasse und darf sich von der Gastfreundschaft und der Lebensfreude der Russen begeistern lassen. Wer es lieber imperial mag, der blättert schon mal bis zu 10.000 Euro für ein Luxusabteil hin und wird bei jeder Haltestelle über die wichtigsten Sehenswürdigkeiten informiert.

Nur wenig kürzer, aber wesentlich heißer ist die Strecke zwischen dem südafrikanischen Kapstadt und Tansania. Auf einer zwanzigtägigen Reise wechselt der Ausblick von der Südküste Afrikas hin zur Steppe bis zum Regenwald, gigantischen Wasserfällen in schier greifbarer Nähe und kaum erschlossenen Dörfern in unberührter Wildnis.

Wer jedoch nicht erst ins Flugzeug steigen will, um spektakuläre Bahnfahrten zu erleben, der begibt sich ganz einfach mitten in Berlin in den „Bernsteinexpreß“ und läßt sich während der weißen Nächte, in denen die Sonne niemals vollständig untergeht, bis nach St. Petersburg fahren. Zahlreiche Sonderstops und Sehenswürdigkeiten am Weg entlang der Ostsee und dem Baltikum sind garantiert. Genauso wie bei einer Zugfahrt entlang der linken Rheinstrecke von Köln bis ins Mittelrheintal, das auch schon Heinrich Heine zu seinem Loreleylied inspiriert hat.