© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/18 / 09. März 2018

„Die AfD wird sich entscheiden müssen“
Wo steht die Alternative für Deutschland nach fünf Jahren? Wie hat sie sich entwickelt? Wie geht es weiter mit ihr? Der Bonner Politikwissenschaftler und Extremismusforscher Lazaros Miliopoulos wagt eine Bestandsaufnahme
Moritz Schwarz

Herr Dr. Miliopoulos, nach fünf Jahren hat es die AfD in den Bundestag geschafft. Wird sie dort den Ansprüchen gerecht?

Lazaros Miliopoulos: Das läßt sich noch nicht sagen, dazu müßte man die Fraktion ein oder zwei Jahre beobachten. Mein erster Eindruck aber ist, daß ihr ein vergleichsweise professioneller Start gelungen ist. Was sie dabei kennzeichnet ist allerdings weniger Sacharbeit als mehr harte oppositionelle Rhetorik: Redebeiträge und gestellte Anträge zeigen, wie die Partei Themen von rechter Seite, zum Teil sehr provokativ, in die Öffentlichkeit zu bringen versteht.

Und die Sacharbeit? 

Miliopoulos: Die eigentliche parlamentarische Arbeit wird ja nicht im Plenum, sondern in den Ausschüssen gemacht. Und um diese zu beurteilen, müßte man eben langfristig beobachten.   

Fraktionschef Gauland hatte am Abend der Bundestagswahl versprochen, die Regierung zu „jagen“. Versprechen gehalten? 

Miliopoulos: Rein rhetorisch betrachtet: ja.

Wird die Partei das fortsetzen können oder droht sie, wie in den vergangenen fünf Jahren, erneut in Flügelkämpfen zu versinken? 

Miliopoulos: Keine Frage ist, daß diese wiederaufkommen werden. Denn die Konflikte zwischen den Flügeln wurden nur befriedet, nicht gelöst. Also ist die Frage: Wird die AfD das überleben? Das weiß keiner. Doch gibt es vier Punkte, die dafür sprechen: Erstens, sie hat die bisherigen Konflikte erstaunlich robust überstanden. Zweitens, sie hat, verglichen mit früheren Rechtsparteien, kompetentes Personal. Drittens, sie genießt einen hohen, stützenden Zuspruch aus der Wählerschaft. Viertens, sie füllt eine vorhandene sogenannte Repräsentationslücke im deutschen Parteienspektrum.

Also, „gekommen, um zu bleiben“, wie der Berliner Vize-Fraktionschef Ronald Gläser in einer ARD-Sendung angekündigt hat? 

Miliopoulos: Sicher ist natürlich nie etwas. Auch nicht, ob sie die 12,6 Prozent Stimmanteil der Bundestagswahl wird halten können oder künftig über- beziehungsweise unterbietet.

Wovon hängt das ab?

Miliopoulos: Unter anderem davon, wie die Konflikte ausgetragen und entschieden werden. Etwa der um den Kurs der Partei zwischen Koalitionsfähigkeit und Fundamentalopposition.

Wie sehen die nächsten fünf Jahre aus, wenn sich letzterer durchsetzt?

Miliopoulos: Aussagen über bestimmte Zeiträume können nur unseriös sein. Aber grundsätzlich würde die Partei dann ein Problem mit ihrem bürgerlichen Flügel, aber auch vielen Wählern bekommen, die wollen, daß man auch politisch gestaltet. Flügelparteien – die in plural gemischten Demokratien naturgemäß nicht in der Lage sind, eine eigene Regierung zu stellen – haben im Falle einer fundamentaloppositionellen Strategie eigentlich nur bei revolutionärer Zuspitzung der Lage reale Gestaltungsmöglichkeiten. Und so etwas ist trotz aller zum Teil großen Probleme in Deutschland zumindest mittelfristig nicht absehbar. Die Opposition würde für die Partei dann also zur Sackgasse.

Beim koalitionären Kurs dagegen droht die Partei ihre Seele zu verkaufen? 

Miliopoulos: Das ist die Gefahr, die der andere Teil der Mitglieder und Wähler sieht, aber eben längst nicht alle. Und je länger die Partei ohne Machtoption bleibt, desto mehr wird sich der Druck auf diesen Teil erhöhen. So ist das ja auch bei den Grünen gelaufen.

Eben die sind vielen Fundamentaloppositionellen ein abschreckendes Beispiel. Schließlich ist nach Ansicht etlicher ehemaliger Grüner dort genau das passiert. 

Miliopoulos: Natürlich muß man Kompromisse machen, um zu koalieren und einen Teil seiner Positionen abstoßen. Die Kunst ist, dies zu tun, ohne dabei seine „Seele zu verkaufen“. Eine Formel dafür, dabei erfolgreich zu sein, könnte lauten, daß der Wandel, den man durch seinen koalitionären Einfluß in der Politik bewirkt, größer ist als der Wandel, den man dabei selbst vollzieht.  

Und was ist mit dem Flügelkampf, dessen Rückkehr Sie vorhersagen? Hat der sich nun nach fünf Jahren nicht erledigt?

Miliopoulos: Wie kommen Sie darauf?

Der Versuch der sogenannten „Liberalen“, die sogenannten „Rechten“ aus der Partei zu drängen, ist doch gescheitert. Heute gilt Björn Höcke Parteichef Gauland als „Seele der Partei“. Ist die Sache also nicht entschieden?

Miliopoulos: Würde Höcke überall in der AfD als „Seele der Partei“ angesehen werden, müßte ich Ihnen recht geben. Von außen betrachtet, also soweit ich das beurteilen kann, sehe ich das aber nicht. Ich würde sogar sagen, daß weiterhin viele Gemäßigte, Christ- und Nationalkonservative wichtige Ämter innehaben, sich aber nicht auf gleiche Weise Gehör verschaffen wie die radikal Völkischen.

Lauter wird die Forderung, die AfD durch den Verfassungsschutz zu beobachten. Hat sie sich in diesen fünf Jahren wirklich zur extremistischen Partei entwickelt?

Miliopoulos: Betrachtet man die Programmatik, dann insgesamt nicht. Allerdings gibt es in der Partei immer wieder Aussagen, die darauf hindeuten, daß einzelne Mitglieder in ihrem Ordnungsverständnis im radikalen Sinne „revolutionär“ sind. Hier wäre zu fragen, welches grundsätzliche Verständnis von freiheitlicher Demokratie vorherrscht. Ein größeres Problem scheint mir aber zu sein, daß etlichen AfDlern offenbar nicht bewußt ist, daß ihre Partei für sehr viele Bürger in Gänze als extremistisch „rüberkommt“, was wir aus Umfragen wissen. Vollends verwirrend wird es, wenn man bedenkt, daß ein Teil der AfD glaubt, die Partei spräche für „das Volk“, ein erheblicher Teil dieses Volks sie aber als zu radikal ablehnt. Das sollte zu denken geben. 

Wieso kommt man falsch „rüber“?

Miliopoulos: Das liegt zum einen daran, daß sich die Medien sehr stark auf die verbalen Grenzüberschreitungen einzelner Mitglieder fokussieren und diese überproportional abbilden. Schließlich gibt es jene, die bestimmte Mechanismen nicht durchschauen und den Medien immer neue Vorlagen liefern. Das aber verdeckt die tatsächliche Bandbreite der Partei: Relevante Teile nicht nur der Programmatik, sondern auch der Abgeordneten auf Landes- und Bundesebene können weiterhin als konservativ angesehen werden.   

Die Partei ist also nicht dabei, in den Extremismus abzukippen, wie das viele Medien darstellen?

Miliopoulos: Ich bezweifle, daß „viele Medien“ dies tatsächlich so apodiktisch tun, wie Sie sagen. Aber wie auch immer: Zwar hat sich die Partei in Teilen radikalisiert, vereinzelt mag es gar extremistische Einsprengsel geben, aber nein: Wenn man die ganze Partei, nicht immer nur die einschlägigen Politiker und Landesverbände, und auch die Parteiprogrammatik in Gänze in den Blick nimmt, geben dies die Befunde aus meiner Sicht nicht her. 

In puncto Programmatik würden AfD-Kritiker wohl sagen, Papier ist geduldig. 

Miliopoulos: Sicher muß man fragen, wieweit diese tatsächlich umgesetzt wird. Aber daß ein Funktionär „Kameltreiber“, ein anderer „Halbneger“ sagt, ist zwar maßlos und dumm, widerlegt jedoch noch keine Programmatik. Und diese außen vor zu lassen, das geht bei einer soliden Analyse nicht! Im Gegenteil, man muß schon belegen, wo die Partei ihrer Programmatik widerspricht. 

Warum sehen wir dann in den Medien fast ausschließlich „Extremismusexperten“, die der Partei Extremismus attestieren? 

Miliopoulos: Ist das wirklich so? Ich habe nicht alle Experteninterviews zur AfD in den Medien gesichtet, kann also dazu keine valide Aussage machen. Allerdings habe ich persönlich dort durchaus auch Experten erlebt, die das nicht unbedingt tun. Dennoch würde ich Ihnen subjektiv insofern zustimmen, als auch mir in den Medien Beiträge begegnen, die besser abbilden könnten, daß es in der Politikwissenschaft eine durchaus kontroverse Debatte um die Frage „Ist die AfD extremistisch?“ gibt. Und zu guter Letzt kommt es immer auf die Definition an. Nehmen Sie den Begriff „Rassismus“: Den definiert der eine eng, also im Sinne biologischer Abstammung, der andere offen, etwa indem er ihn mit Xenophobie gleichsetzt. Man muß also bei Aussagen gerade von Politikwissenschaftlern immer auch fragen, nicht nur welche Methode er anwendet, sondern wie er seine Kategorien definiert und welche empirischen Belege er hat.    

Sind die Äußerungen einzelner AfD-Politiker tatsächlich extremer als das, was man auch aus dem etablierten Spektrum hört?  

Miliopoulos: Es stimmt, daß da mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Provokationen, etwa manch alte Aussagen von Deniz Yücel oder Dummheiten wie etwa „Eine deutsche Kultur ist ... nicht identifizierbar“ der SPD-Politikerin Aydan Özoguz oder „Das Volk ist jeder, der in diesem Land lebt“ von Angela Merkel, sind Ihnen ja bekannt. Aber das rechtfertigt nicht, wenn einige in der AfD ebenfalls ins Abstruse, Maßlose, Unanständige oder gar Extremistische verfallen – dann müssen diese sich das auch zurechnen lassen. Daß so etwas auf etablierter Seite auch passiert, ist natürlich ärgerlich und fragwürdig, entschuldigt die AfD aber nicht. 

Der „Tonfall“ der AfD ist in fünf Jahren erkennbar „radikaler“ geworden, gleichzeitig haben in den Parteiämtern die „Gemäßigten“ die Mehrheit. Wie erklärt sich dieser Widerspruch? 

Miliopoulos: Einerseits damit, daß die „Gemäßigten“ anscheinend nicht so gut organisiert sind wie die „Radikalen“. Andererseits setzen alle miteinander aber strategisch auf „Provokation“ und „Geschlossenheit“. Allerdings spielt auch eine Rolle, daß radikale AfD-Töne von den Etablierten unverhältnismäßig verstärkt werden. Dies wiederum demonstriert, daß Provokation tatsächlich zu Erfolgen führen: die Partei wird gehört, provoziert Debatten, ihre Gegner zeigen sich (negativ) beeindruckt. Auf die Gemäßigten in der AfD dagegen wird kaum reagiert. Ihr Kurs wird von außen nicht „belohnt“. 

Also haben die „Gemäßigten“ verloren?

Miliopoulos: An Boden verloren ja, aber insgesamt nicht. Der völkische Flügel hat sich in der Partei zwar verankert, aber nicht durchgesetzt.

Was genau meinen Sie mit „völkisch“?

Miliopoulos: Jene Strömung, die ich im sogenannten „Flügel“ manifestiert sehe und die die Nation eher über ein auf gemeinsamer Abstammung beruhendes Volk definiert. Im Gegensatz zu einem liberaleren nationalkonservativen Flügel, der Nation eher als kulturell legierte Staatsbürgergemeinschaft begreift. 

Also haben die „Völkischen“ mit dem „Flügel“ eine konfliktfähige Struktur, die „Konservativen“ dagegen nicht – denn die „Alternative Mitte“ findet kaum Zuspruch. Sind also erstere nicht klar überlegen? 

Miliopoulos: Die „Alternative Mitte“ ist relativ jung. Es ist verfrüht, ihre Wirksamkeit abschließend zu beurteilen. Die Konservativen haben ansonsten vielleicht deshalb wenig Organisation, eben weil sie der Zahl nach wahrscheinlich weiterhin (knapp) in der Mehrheit sind. Und nicht die Mehrheit, die Minderheit muß sich organisieren! Interessant ist, daß sich dieses Problem erfahrungsgemäß mit der Frage der Basisdemokratie verbindet, denn die AfD ist da extrem diskussionsfreudig. 

Die AfD: Die besseren Demokraten?       

Miliopoulos: Die SPD bietet derzeit auch viel Basisdemokratie. Aber es stimmt schon, daß in der AfD die Willensbildung interessanterweise von unten nach oben funktioniert. So gesehen ist sie sehr modern.  

Was kommt in den nächsten fünf Jahren vor allem auf die Partei zu?

Miliopoulos: Parteichef Gauland führt die Partei, indem er endgültige Entscheidungen zu vermeiden und die Flügel zu versöhnen versucht. Dadurch ist inhaltlich vieles bei der AfD nach wie vor im Unklaren. Das kann man aber nicht ewig so machen. Irgendwann kommt der Moment, wo man sich entscheiden muß. Die AfD hat bei etlichen Themen immer noch keine entwickelte Programmatik. Wie steht sie etwa wirklich zur Nato und zu Rußland, zur EU, zum Sozialstaat, zur Steuer- und Wirtschaftsordnung, zur Einwanderungspolitik etc.? Es wird die Partei noch einmal vor große Herausforderungen stellen, hier klare Positionen zu finden. Herausforderungen, an denen sie auch scheitern, vielleicht sogar zerbrechen, sich zumindest aber in den Augen der Wähler unmöglich machen kann. Angesichts der innenpolitischen Lage verzeihen die Wähler der Partei derzeit offenbar so manchen Fehler. Das muß aber, auch wenn sich das mancher AfDler vielleicht nicht vorstellen kann, nicht so bleiben – vor allem sollten einmal wieder andere politische Tagesthemen dominieren als nur Flüchtlings- und Migrationspolitik. 






Dr. Lazaros Miliopoulos, ist Politologe am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Bereiche Politisches System der Bundesrepublik, Extremismusforschung, Politische Ideologie und Ideengeschichte. Er veröffentlichte zahlreiche Aufsätze, darunter „Konservativismus und Extremismus. Ein Spannungsfeld“,  „Die Konservative Parteienfamilie im europäischen Kontext“ oder „Vom Fünf- zum Sechs-Parteiensystem“. Geboren wurde er 1976 in Düsseldorf. 

Foto: AfD-Delegierte: „Der Partei ist ein vergleichsweise professioneller Start gelungen (...) Doch ihre Konflikte wurden nur befriedet, nicht gelöst. Das aber kann man nicht ewig so machen“

 

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