© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/18 / 09. März 2018

Fünf Terabyte Schicksale
Weltkriegsvermißte: Noch immer erreichen Tausende Anfragen pro Jahr den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes / 2023 ist Schluß
Paul Leonhard

Mitunter gibt es diese Wunder: Kurz nach der Jahrtausendwende kann der damals 68jährige Horst Hüppler aus dem ostsächsischen Schlegel seine seit 56 Jahren totgeglaubte Schwester Rosemarie im nordhessischen Ihringshausen in die Arme schließen. Beide hatten voneinander angenommen, daß der jeweils andere bei den Bombenangriffen der Alliierten in der Nacht des 13. Februars 1945 auf Dresden umgekommen sei. Jahrzehntelang hatte Horst Hüppler seine zwei Jahre ältere Schwester über das Deutsche Rote Kreuz der DDR suchen lassen, elf Jahre nach der Wiedervereinigung wurde schließlich der Münchener Suchdienst des DRK fündig. 

Daß sich Familienangehörige wiederfinden, die sich im Zweiten Weltkrieg aus den Augen verloren haben, ist 72 Jahre nach Kriegsende so gut wie ausgeschlossen, aber noch immer ist die Nachfrage beim Suchdienst groß. Knapp 9.000 Anfragen nach Weltkriegsvermißten gab es im Jahr 2016, mit rund 8.000 wird für das vergangene Jahr gerechnet, 4.193 waren es im ersten Halbjahr 2017.

Es sind die Kinder und vor allem Enkel der Kriegsgeneration, die sich für den Verbleib der Verschollenen interessieren. Eine Spurensuche, die der Bund nur noch bis 2023 bereit ist, zu finanzieren. In fünf Jahren soll die Suche nach Vermißten des Zweiten Weltkriegs auslaufen. Das haben noch kurz vor der Bundestagswahl der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und Rudolf Seiters, seinerzeit Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, vertraglich festgelegt. 

Damit geht ein wichtiges Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte zu Ende. Es ist eine – wenn auch aus traurigem Anlaß entstandene – Erfolgsgeschichte. Der Suchdienst konnte mehr als 16 Millionen Menschen zusammenführen, mehr als eine halbe Million Kinderschicksale klären und rund 600.000 Menschen über den Verbleib von Angehörigen in Konflikten und Katastrophen benachrichtigen.

Als der Soziologe Helmut Schelsky unmittelbar nach Kriegsende den Suchdienst des (westdeutschen) DRK aufbaute, galten Millionen Deutsche als vermißt. Sie waren als Soldaten, Zivilinternierte, Flüchtlinge oder Vertriebene verschollen. 1950 gab es einen „Aufruf zur Registrierung der Kriegsgefangenen und Vermißten“. Alle Familien wurden aufgefordert, ihre Vermißten zu melden. Allein zwischen dem 1. und 11. März 1950 wurden 2,5 Millionen Menschen neu erfaßt. Bis 1955 gab es 14 Millionen Anfragen, von denen 8,8 Millionen geklärt werden konnten. Sechs Millionen Kriegsheimkehrer wurden nach vermißten Kameraden befragt. Millionen Datensätze kamen zusammen. Es entstand ein Lagerarchiv mit Informationen über 12.800 Kriegsgefangenen- und Internierungsstandorte.

Der Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißtenangehörigen Deutschlands übergab 1955 eine Bildsammlung von 45.000 Verschollenen. Zwei Jahre später gingen Vermißtenbildlisten in Druck, die schließlich 199 Bände – davon 187 mit 1,4 Millionen Namen und mehr als 900.000 Bildern – umfaßten. Dazu kamen 26 Bände für Zivilverschollene. In der DDR gab es noch Anfang der siebziger Jahre eine Radiosendung, in der jeden Sonntag die Namen von Vermißten vorgelesen und nach ihrem Verbleib gefragt wurde. Einen neuen Impuls erhielt die Suche, als nach 1990 osteuropäische Archive, insbesondere in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, zugänglich wurden.

Inzwischen wird mehr nach heutigen Migranten gesucht

Inzwischen ist die Zentrale Namensdatei mit rund 50 Millionen Karteikarten digitalisiert und auf einer Fünf-Terabyte-Festplatte gespeichert. Die Originaldokumente wurden vor drei Jahren aus München, wo der Suchdienst sein Archiv hatte, an den Standort Hamburg gebracht, wo sie weiterhin für Forschungszwecke zugänglich sind.

Schwerpunkt des mit jährlich 11,5 Millionen Euro ausgestatteten Suchdienstes des DRK ist seit 2015 nicht mehr die deutsche Geschichte, sondern die Suche nach Menschen, die auf ihrer Flucht aus Afghanistan, Syrien oder Somalia voneinander getrennt wurden. „Die andauernden weltweiten Konflikte mit Millionen von Flüchtlingen zeigen, wie unverzichtbar eine international vernetzte Institution wie der DRK-Suchdienst auch in der Zukunft ist“, sagte der ehemalige DRK-Präsident Seiters. 

Daß noch immer die Schicksale von 1,3 Millionen Deutschen ungeklärt sind, noch immer neue Massengräber von deutschen Zivilisten und Soldaten in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, wie unlängst im ostpreußischen Marienburg, entdeckt werden, daß der Volkbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge jedes Jahr bis zu 30.000 Gefallene exhumiert, erwähnte Seiters nicht. In der Bundesrepublik gilt das russische Sprichwort nicht, laut dem der Krieg nie zu Ende gehen wird, solange der letzte Soldat nicht beigesetzt wurde.