© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/18 / 09. März 2018

Von der SS zum BND zum Mossad
Das Böse als Normalität: Chris Kraus erzählt in „Das kalte Blut“ von den Verstrickungen deutschbaltischer Brüder in die Zeitläufte des 20. Jahrhunderts
Felix Dirsch

Wenn man einen Wälzer von fast 1.200 Seiten vor sich liegen hat, ist man zunächst vom schieren Umfang abgeschreckt. Diese anfängliche Zurückhaltung wandelt sich im vorliegenden Fall in vorsichtiges Interesse, wenn man das Pferd von hinten aufzäumt und zuerst die Danksagung des Verfassers zur Kenntnis nimmt. Kraus, auch prominenter Filmemacher, nennt jene Sachbuchliteratur und belletristischen Autoren, die ihn nachhaltig beeinflußten, darunter Harald Welzers Buch „Täter“ und Klaus-Michael Mallmanns Studie „Der Krieg im Dunkeln“, weiter nimmt er Anleihen bei Literaten von Weltruf von Péter Esterházy über Don DeLillo bis John Irving. Man errät schnell einen der Schwerpunkte des Textes: das Böse, das im Gewand der Normalität auftritt.

Nun ist der Leser gespannt, wie dieses Programm erzählerisch umgesetzt wird und ist bald überrascht. Er wird schon am Anfang in einen famosen Fabuliersog hineingenommen, dem sich wohl nur wenige entziehen können. Die Rahmenhandlung findet Mitte der 1970er Jahre in einem Münchner Krankenhaus statt. Der Mittsechziger Konstantin („Koja“) Solm wird in ein Gespräch mit einem Hippie verwickelt, der ebenfalls dort Patient ist. Seine Lebensgeschichte, die immer auch eine Beichte ist, hat es in sich. Solm wächst mit seinem Bruder Hub im Baltikum auf. Koja möchte früh seiner künstlerischen Ader folgen, studiert Architektur, doch die Zeitumstände machen ihm einen Strich durch die Rechnung. In den 1930er Jahren führt sein Weg ihn zu den Nationalsozialisten und in die SS.

An Vernichtungsaktionen der SS beteiligt

Das Verhältnis der Brüder ist äußerst wechselhaft, was vor allem mit der von den Eltern adoptierten Ev zu tun hat. Sie ist einmal die Geliebte des einen, mal des anderen. Sie heiratet Hub. Vater ihrer Tochter ist jedoch Koja. Die vielen Dialoge zwischen Hub, Koja und Ev, die sich durch fast alle Teile des Romans ziehen, gehören zu den stilistischen Höhepunkten des narrativ ebenso großartigen wie vielschichten Werks. Überall ist Liebe, Lüge, Verrat, Verwunderung, Verachtung, Intimität, Haß und vieles mehr mit im Spiel. Einer der Sätze, der in besonderer Weise zum Nachdenken anregt, lautet: „Und mir wurde klar, warum der Mensch den Menschen liebt, da er ihn nämlich lieben muß, weil das für jeden Einzelnen die einzige Hoffnung ist, trotz allem ein Mensch zu bleiben.“

Immer wieder wird der Leser mit den Charakteren der Protagonisten und ihrer Entwicklung konfrontiert. Sie zeigen unterschiedliche Züge, sympathische und weniger sympathische. Dieser Eindruck dürfte vom Autor gewollt sein. 1939 verlassen beide wie fast alle Deutschbalten ihre Heimat. 1941 kehren sie wieder dorthin zurück. An den grausamen Vernichtungsaktionen in der Nähe Rigas, die Tausenden von Juden das Leben kosten, sind sie unmittelbat beteiligt. Chris Kraus schildert die Verbrechen sehr detailliert und drastisch.

Im historisch authentischen „Unternehmen Zeppelin“, das von den Brüdern maßgeblich vorangetrieben wird, geht es um die Anwerbung von russischen Kriegsgefangenen, die bereit sind, mit dem SD zu kollaborieren. Führende deutsche Vertreter, die die entsprechenden Netzwerke initiieren, nutzten ihre Kontakte, um in den fünfziger Jahren im neu entstandenen bundesdeutschen Geheimdienst Fuß fassen zu können. Auch Koja und Hub gehen diesen Weg, der freilich nur mit größtem Glück gelingt. Kurz vor Kriegsende wäre Koja fast umgekommen; er gelangt in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Kraus erzählt hier eine moderne Tragödie par excellence: auf der einen Seite haben die Brüder schwerste Schuld auf sich geladen und sind für ihre Taten voll verantwortlich, auf der anderen Seite sind sie aber auch von den Umständen getrieben.

Pikant werden die Verstrickungen nicht zuletzt dadurch, daß sich noch während des Krieges die jüdische Herkunft der Adoptivschwester herausstellt, die nur unter Schwierigkeiten vor den Häschern gerettet werden kann. Hier fungieren die Mörder als Beschützer! Nach der deutschen Kapitulation und der Scheidung von Hub verläßt Ev mit Koja, der zeitweise zum engen Mitarbeiter von BND-Chef Reinhard Gehlen aufsteigt, die Bundesrepublik und baut sich eine Existenz in Israel auf. Ihr Streben gilt vornehmlich der Verfolgung der Täter. Ehemann Koja, Deckname „Himmelreich“, wird Agent des Mossad und hilft beim Aufspüren von NS-Verbrechern. Sein Wissen ist nützlich, was auch jene nicht bestreiten, denen seine Vergangenheit bekannt ist. Leser mögen sich hier an die Weisheit des Thomas von Aquin erinnern, der überzeugt war, daß es ohne Böses auch manches Gute nicht gäbe.

Die Schilderungen enden in den frühen sozialdemokratischen siebziger Jahren. Am Schluß wird Koja von der überwältigenden Schuld erneut eingeholt: Er hat wieder vor Augen, wie er ein ganzes Magazin leergeschossen hat, um ein einzelnes Kind im Wald von Bikernieki zu töten. Die Worte des Erzählers „Kein Mensch ist besser als der andere“ scheinen dazu im offenkundigen Kontrast zu stehen. Nicht nur über diese Aussage lohnt es sich nachzudenken. 

Chris Kraus: Das kalte Blut. Roman. Diogenes-Verlag, Zürich 2017, gebunden, 1.187 Seiten, 32 Euro