© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/18 / 09. März 2018

Der Terror gegen die Feinde der Tugend
Wenn Ideologie Herrschaft diktiert: Frankreich von der Errichtung des Revolutionstribunals 1793 bis zum Thermidor 1794
Dag Krienen

Am 9. Thermidor des Jahres II der neuen Zeitrechnung – 27. Juli 1794 – notierte der Rentier Célestin Guittard in seinem Tagebuch: „Heute (...) war es vom Morgen bis 3 Uhr am Nachmittag in der Nationalversammlung äußerst stürmisch. Robespierre wurde dort als Schurke angeprangert. Es wurde auf der Stelle die Festnahme angeordnet. Darauf war er kaum gefaßt, er, der (bislang) Herr der Versammlung war und alle zittern ließ.“ 

Guittards erster Tagebucheintrag an diesem Tag galt jedoch einem ganz anderen Ereignis: „Wir haben Antwerpen eingenommen – der Feind hatte es aufgegeben, so daß dem Kaiser in Brabant und Flandern keine Stadt mehr geblieben ist. Wir haben alles.“

Tatsächlich hing die Entwicklung der sogenannten Terrorherrschaft in Frankreich 1793 und 1794 mit der Entwicklung der inneren und äußeren Bedrohungen des revolutionären Regimes zusammen. Diese Beobachtung ist immer wieder als Entschuldigung für diese mörderische „Entgleisung“ einer offiziell zu Fortschritt und Demokratie führenden Revolution mißbraucht worden. Großzügig übersehen wird dabei, daß die Revolutionäre durch ihre paranoide Furcht vor einer „Konterrevolution“ und ihre überhebliche Politik maßgeblich dazu beitrugen, diese inneren und äußeren Bedrohungen überhaupt erst entstehen oder zu einer gefährlichen Größe anwachsen zu lassen. 

Schnelle Aburteilung von „Konterrevolutionären“

Das war schon in den vorangegangenen Monaten so gewesen (JF 33/17) und setzte sich fort. Der Krieg mit Österreich 1792, die Hinrichtung des Königs im Januar 1793 und die folgenden Kriegserklärungen an England, Holland und Spanien, die weitgehend imaginierte konterrevolutionäre Bedrohungen beseitigen sollten, führten zu neuen Kalamitäten. Als der Nationalkonvent im März 1793 die Aushebung von 300.000 Mann für den ohne Not ausgeweiteten Krieg anordnete, entflammte in vielen Provinzen der Widerstand. In der westfranzösischen Vendée entstand sogar eine „königliche und katholische Armee“, die den revolutionären Truppen wiederholt schwere Niederlagen zufügte. Auch in anderen Provinzen Frankreichs herrschte 1793 zeitweise offener Bürgerkrieg.

Unter dem Begriff „Terror“ (Terreur) wird indes nur das formal justizförmige Vorgehen der Revolutionäre gegen ihre realen und eingebildeten inneren Feinde verstanden. Auf Anregung Dantons wurden am 10. März in Paris und in wichtigen Provinzstädten außerordentliche Strafgerichte (Tribunal criminel extraordinaire, den Namen „Revolutionstribunal“ erhielten sie erst im Herbst 1793) gebildet, gegen deren Urteile keine Berufung möglich war. Ihre Aufgabe war die schnelle Aburteilung von „Konterrevolutionären“, wobei es zunächst für die Beschuldigten noch gewisse Verfahrensgarantien und auch Freisprüche gab. Zum Symbol des „Terrors“ wurde die angewandte neue Hinrichtungs-Maschine, die Guillotine. 

Weitere echte und eingebildete Bedrohungen wie das Überlaufen des republikanischen Generals Dumouriez sowie neue Gerüchte über konterrevolutionäre Verschwörungen führten am 6. April 1793 zur Bildung des „Wohlfahrtsausschusses“ (Comité de salut public), der sich zum zentralen Exekutivorgan des Nationalkonvents entwickelte. Dieser geriet im Juni unter die Kontrolle der radikalen „Bergpartei“ (Montagne) um Robespierre. Denn ein neuer Aufstand der frühproletarischen Sansculotten in Paris hatte den Ausschluß und die Verhaftung der girondistischen Konventsmitglieder zur Folge gehabt. Viele der eher bürgerlichen Girondisten schafften es indes, in ihre Heimatstädte zu flüchten, von denen sich einige gegen die Pariser Zentrale erhoben (insurrection fédéraliste). Der Konvent reagierte am 23. August mit dem Dekret über die „levée en masse“, das nicht nur die allgemeine Wehrpflicht einführte, sondern eine „totale Mobilmachung“ der gesamten Gesellschaft für den Krieg anordnete. 

Bis zum Sommer 1793 blieb es in jenen Gebieten Frankreichs, in denen nicht offener Bürgerkrieg herrschte, bei der „terreur légale“, einer halbwegs justizförmigen Verfolgung der Gegner. Das änderte sich nach einem weiteren Sansculotten-Aufstand in Paris Anfang September. Der Konvent erfüllte nicht nur deren Begehren, Höchstpreise für Lebensmittel (Maximum-Gesetz) festzulegen, sondern beschloß, nun offen zum „Terror“ gegen alle „Konterrevolutionäre“ überzugehen. Das „Gesetz gegen die „Verdächtigen“ vom 17. September erlaubte die Verhaftung aller, die einer „konterrevolutionären“ Gesinnung verdächtig waren. Zugleich wurde nun vermehrt „erwiesenen“ „Konterrevolutionären“ vor den Revolutionstribunalen der Prozeß gemacht. Noch im Oktober endeten sowohl die ehemalige Königin, Marie Antoinette, als auch die inhaftierten Girondisten unter der Guillotine.

Maximilien de Robespierre (1758–1794), vor der Revolution ein kleiner Anwalt, wurde zur beherrschenden politische Figur im Wohlfahrtsausschuß. Dem „Unbestechlichen“ wurde als einzigem zugetraut, jene „echten“ Revolutionäre als solche zu erkennen, die die wichtigen politischen Posten besetzen sollten. Damit beherrschte er praktisch die Personalpolitik der Revolution. 

Wie Stalin 130 Jahre später verhalf ihm dies zu großer Machtfülle, doch anders als diesem ging es Robespierre nicht um die Macht als solche, sondern um die ideale Republik. Seiner Überzeugung nach bedurfte eine solche tugendhafter Männer als Bürger. Ohne Tugend war Terror in seinen Augen verhängnisvoll, aber ohne den Terror gegen ihre Feinde die Tugend machtlos. Das lief auf die Ausmerzung all jener hinaus, die die wahre republikanische Tugend nicht besaßen. Praktisch beanspruchte der „Unbestechlichen“ auch die Macht, zu bestimmen, wer als „Konterrevolutionär“ auszuschalten und zu vernichten war. 

Um den Aufstieg eines solchen Ideologen zum „Herrn, der alle zittern läßt“, zu verstehen, muß man sich vor Augen halten, daß im revolutionären Frankreich fast alle überkommenen Formen institutioneller sozialer und politischer Sicherheit und Disziplin zerstört worden waren. Den politisch Handelnden fehlten jenseits der schimärischen revolutionären Rhetorik praktisch alle konkreten Anhaltspunkte, die ihnen hätten Orientierung geben können. 

Zudem bildeten die Revolutionäre zu keiner Zeit eine auch nur halbwegs kohärente Gruppe. Auch wenn immer wieder neue Parteinamen wie Feuillants, Girondisten, Montagnards etc. im Umlauf waren, handelte es sich dabei nur um lose Cliquen, nicht um durchorganisierte Parteien. Das gegenseitige Mißtrauen war groß. Die wiederholten Säuberungen ließen unter den Gruppen im Konvent die Furcht wachsen, von anderen Cliquen herausgedrängt und ausgeschaltet zu werden. 

Die Abgeordneten standen zudem unter dem Druck der stets rührigen, aber nur schwer berechenbaren, auf Radikalisierung drängenden Pariser Sansculotten. Schwierigkeiten bei der Realisierung der je eigenen hehren Absichten erklärten sie sich als Folge der „Verschwörungen“ konterrevolutionärer Feinde. Diese waren aber konkret kaum zu fassen, weil weitgehend imaginär. Terror als ein Mittel zur Bestrafung „Schuldiger“ und zur Erziehung potentieller Schuldiger (sowie zur politischen Beruhigung der Sansculotten) schien das probate Gegenmittel zu sein. Ein „Unbestechlicher“, der dabei scheinbar Freund und Feind klar erkennen und benennen konnte, war unter diesen Umständen von größtem Wert.

Ende 1793 zerfielen auch die radikalen Montagnards in rivalisierende Cliquen. Die paranoide Angst voreinander und vor realen und eingebildeten inneren und äußeren Feinden erreichte neue Gipfel. Die Revolution fraß nun immer mehr ihrer eigenen Kinder. Nicht nur „Nachsichtige“ (Indulgents) wie Danton, die sich für eine Mäßigung des Terrors aussprachen, wurden der „Konterrevolution“ angeklagt, sondern auch ultraradikale Sozialrevolutionäre wie Jacques-René Hébert und seine Anhänger. Letzteren wurde vorgeworfen, im Auftrag der Royalisten durch ihren absurden Radikalismus die Revolution zu diskreditieren. Die Köpfe der Hébertisten rollten im März, die der Indulgents im April 1794. 

Allein moralische Beweise reichten zur Anklage

Der Terror um der Tugend willen verselbständigte sich. Robespierre und seine Anhänger wollten die völlige „Reinigung“ der Nation. Das am 10. Juni 1794 erlassene, von Robespierre konzipierte Gesetz (22. Prairial II) zwang das Revolutionstribunal, alle verurteilten „Feinde des Volkes“ mit dem Tode zu bestrafen. Die justitielle Form wurde zur Farce. Die „Beweisaufnahme“ wurde vereinfacht, „moralische Beweise“ reichten, den Angeklagten wurden alle Rechtsmittel verwehrt. In den folgenden sieben Wochen wurden in Paris fast ebenso viele Hinrichtungen vollzogen wie in den vorangehenden 15 Monaten.

Dieser „Große Terror“ untergrub allerdings die Stellung Robespierres. Denn die Lage der Republik hatte sich im Sommer 1794 deutlich verbessert. Die Armee der Vendée wurde Ende 1793 zurückgeschlagen, die verschiedenen Girondisten-Aufstände in anderen Regionen erfolgreich unterdrückt. Den Österreichern konnte am 26. Juni 1794 bei Fleurus eine schwere Niederlage beigebracht und anschließend Belgien erobert werden. Auch wirtschaftlich entspannte sich die Lage. Der „Terror“ verlor selbst für Paranoiker seine Plausibilität als Maßnahme zur Behebung höchster Not.

Robespierre hielt indes am 26. Juli im Konvent eine Rede, in der er sich für eine nochmalige Verschärfung des Terrors gegen alle „Verräter“ aussprach und, ohne konkrete Namen zu nennen, weitere Säuberungen im Konvent ankündigte. Fast alle Mitglieder mußten sich jetzt als tödlich gefährdet ansehen. Zum Sturz Robespierre bedurfte es nun keiner besonderen Verschwörung. Schon erste, zunächst noch zaghafte Gegenreden reichten, um den Mythos des „Unbestechlichen“ platzen zu lassen. Am Tag darauf, dem 9. Thermidor, kam Robespierre im Konvent gar nicht mehr zu Wort gegen die Flut der Anklagen, die gegen ihn und seine Clique erhoben wurden. Am 28. Juli wurden er und 21 seiner Anhänger ohne Prozeß enthauptet, weitere folgten in den nächsten Tagen.

Dies bedeutete faktisch das Ende des Terreurs, auch wenn die endgültige Auflösung des Revolutionstribunals erst am 31. Mai 1795 erfolgte. Die Zahl seiner Opfer ist umstritten. Nachweisbar sind 16.594 vollstreckte Todesurteile, davon gut 2.800 in Paris. Die Zahl derer, die ohne Prozeß getötet wurden oder im Gefängnis starben, wird auf 25.000 bis 40.000 geschätzt. Insgesamt wurden zudem fast eine halbe Million Menschen zeitweise verhaftet. Nicht eingerechnet sind die Hunderttausenden an Toten des innerfranzösischen Bürgerkriegs in der Vendée und anderswo. Entgegen den überlieferten Bildern waren es im übrigen auch nicht vorwiegend Adelige und Priester, von denen man annehmen könnte, daß es darunter tatsächlich eine gewisse Zahl an Konterrevolutionären gegeben hat, die unter der Guillotinne endeten. Rund 85 Prozent der Hingerichteten waren Bauern, Arbeiter, Handwerker und Kleinbürger. Vor allem das einfache Volk war zum Opfer des revolutionären Verfolgungswahns geworden.