© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/18 / 09. März 2018

Südtirol war der Preis
Im März 1938 folgte dem Ausgleich zwischen Italiens Diktator Mussolini mit Hitler der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich
Stefan Scheil

Am Mittag des 9. März 1938 verbreiteten sich in Europa die ersten Nachrichten über eine in Österreich geplante Volksabstimmung. Ihre Hintergründe waren unklar, die Entwicklung überraschend. Österreichs Kanzler Kurt Schuschnigg sollte persönlich dafür verantwortlich sein, hieß es. In vier Tagen sollte außerdem schon abgestimmt werden, ohne vorher ein vollständiges Wählerregister anzulegen. Geplant war die Suggestivfrage: „Wollt ihr ein autoritäres, christliches Österreich?“ In den Wahllokalen sollten nur Stimmzettel mit „Ja“ bereitgestellt werden.

So startete der Auftakt zu den extremen internationalen Aufregungen des Jahres 1938 eigentlich als schlechter politischer Scherz. Zwanzig Jahre lang hatte internationaler Druck den Österreichern verboten, sich per Plebiszit für Deutschland zu erklären. Jetzt sollte ausgerechnet ein Plebiszit diesen Druck stützen. Bei seiner Durchführung würde es die Angelegenheiten vielleicht für Jahre zementieren, denn der so ermittelte „Volkswille“ würde im reichsdeutsch-österreichischen Verhältnis erst einmal Tatsachen schaffen. Zwar war nicht genau festgelegt, was die Wähler wollten, wenn sie die gestellte Frage mit „Ja“ beantworten sollten. Aber eine deutschösterreichisch-deutsche Wiedervereinigung, wie sie seit Jahren als Gerücht und mehrheitsfähige Option in der Luft lag, hätten sie mit diesem Votum wohl kaum gefördert.

Hitler verfolgte schon früh einen Verzicht auf Südtirol

Der Natur der Sache nach war das eine internationale Bombe. In Großbritannien griff der dortige Außenminister Lord Halifax die Angelegenheit auf und mahnte seinen in London gerade anwesenden deutschen Amtskollegen Joachim von Ribbentrop gleich am Morgen des 10. März, nichts gegen die Volksabstimmung in Österreich zu unternehmen. Man wolle zwar keinen Krieg, versicherte Halifax treuherzig, aber man wisse nie, falls über solchen Fragen doch ein Krieg ausbrechen sollte, wo dieser Krieg enden könnte oder wer nicht alles in ihn verwickelt werden würde. Über das österreichische Plebiszit sagte Halifax intern zwar selbst, es sei „dumm und provokant“. Trotzdem wollte er es ungestört abgehalten sehen. Das von ihm gentlemanlike plazierte Stichwort „Krieg“ verwies auf einen ziemlich dicken Knüppel, mit dem diese Haltung gegebenenfalls unterstützt werden könnte. Wollte man sich in Berlin internationale Unterstützung gegen Schuschniggs Pseudo-Volksabstimmung sichern, mußte sie anderswo gesucht werden. 

Der Blick ging nach Italien. Für das faschistische Mussolini-Regime hatte Österreichs Existenz lange Jahre als unantastbares Ergebnis des Ersten Weltkriegs gegolten. Als vergleichsweise winziger Restbestand des früheren Habsburgerreichs konnte es geradezu als Garantie für die 1919 erreichte Brennergrenze gelten. Allein konnte Österreich die Zugehörigkeit Südtirols zu Italien nicht in Frage stellen, ein Österreich als Teil Gesamtdeutschlands konnte das aber schon. Überhaupt stellte Österreich auch keine Gefahr für den Status quo in Südosteuropa dar, die für Italien recht wünschenswert eingerichteten Verhältnisse auf dem Balkan. Gehörte Wien zu Deutschland, stand das Tor für deutschen Einfluß aber auch dort offen. Deshalb hatte Rom immer militant gegen jede Form von „Anschluß“ gestanden, ganz auf britischer Linie.

Im März 1938 sah dies anders aus. Südtirol wurde auf einmal zum Preis für einen deutsch-italienischen Handel. Freie Hand für den Nationalsozialismus in Österreich gegen endgültige Anerkennung der Brennergrenze, so lautete die Abmachung unter den Diktatoren. Deutschlands Staats- und Parteichef Hitler hatte sich seit mehr als zehn Jahren für den Verzicht auf Südtirol stark gemacht und konnte diesen Standpunkt auch jetzt vertreten. Es war der Auftakt für ähnliche Angebote, wie sie später im Jahr an Polen gehen sollten, wo die Rückkehr Danzigs nach Deutschland gegen den Verzicht auf das nach 1919 polnische Westpreußen angeboten wurde, auch hier mit der Absicht, einen langfristigen Verbündeten zu gewinnen.

Der Anschluß Österreichs trübte Verhältnis zu England

Im März 1938 klappte das mit Italien, wenigstens für den Augenblick. Österreich konnte also genötigt werden, die Volksabstimmung abzusagen, seine Regierung brach zusammen und deutsche Truppen marschierten ein. Man hielt unter den neuen Verhältnissen nun seinerseits eine Volksabstimmung ab, die trotz klarem Ausgang „pro Deutschland“ nicht wirklich geeignet war, Vorbehalte gegen dieses Instrument politischer Willensbekundung auszuräumen. Wenig Zweifel konnten bestehen, daß die Südtiroler ebenfalls gern in diese Richtung gestimmt hätten, es aber mit Billigung des deutschen Staates nicht durften. So blieb denn offen, ob der österreichische Anschluß eher Ausdruck nationaler Selbstbestimmung war oder ein Indiz dafür, wie radikal sich der nationalsozialistische Staat unter bestimmten Bedingungen über genau dieses Prinzip hinwegsetzen konnte. Für die Südtiroler setzte sich jedenfalls die Leidenszeit unter den italienisch-faschistischen Verhältnissen fort.

Darüber hinaus hatte an diesen Tagen zwischen dem 10. und dem 12. März 1938 mit den englischen Drohungen und der unmittelbar danach trotzdem zu deutschen Bedingungen folgenden deutsch-österreichischen Vereinigung der deutsch-englische Konflikt begonnen. Er war noch kein heißer, wohl aber ein Kalter Krieg um das Recht, die politischen Verhältnisse in Mitteleuropa zu bestimmen. Nicht lange danach verbreiteten sich in Europa die Nachrichten über seine Fortsetzung in der Tschechoslowakei.