© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Warum die Uhren nachgehen
Energiepolitik: Streit auf dem Balkan drückte Netzfrequenz / War das wirklich der einzige Grund?
Jürgen Althoff

Bis zu sechs Minuten gingen in den vergangenen Wochen in 25 europäischen Ländern Europas Bahnhofs- und Backofenuhren sowie viele Radiowecker nach. Warum ist das so? Die betroffenen Uhren werden von der Frequenz des Stromnetzes gesteuert, die normalerweise geringfügig um die 50 Hertz schwankt. Über sie wird die Produktion des Stromes geregelt, da dieser aufgrund physikalischer Gesetze immer exakt in der Sekunde erzeugt werden muß, in der er verbraucht wird.

Hinkt die Frequenz nach, wird zu wenig Strom erzeugt und die Kraftwerke speisen mehr Strom ein. Sinkt der Bedarf, muß sofort die Produktion reduziert werden. Es handelt sich um einen permanenten Regelprozeß innerhalb enger Grenzen. Verringert sich die Frequenz um mehr als zehn Millihertz, wird die sogenannte Regelleistung aktiviert, also mehr Energie von Kraftwerken in die Netze eingespeist. Wenn an einem Hochsommertag alle Solaranlagen kräftig Strom produzieren und ins Netz pumpen, aber dann eine breite Wolkenfront aufzieht, muß sofort Strom von Bereitschaftskraftwerken fließen können.

Weniger Leistung in die Stromnetze eingespeist

Da sich auch kleine Netzfrequenzabweichungen auf die Zeitangabe auswirken, sorgt der europäische Übertragungsnetzverband Entso-E durch einen permanenten Abgleich mit einer Referenzzeit dafür, daß die Zeitabweichung unterhalb von 100 Millisekunden bleibt. Diese Korrekturen erfolgen über einen zentralen Taktgeber für alle Kraftwerke: Die Drehzahlen der ins Netz liefernden Generatoren müssen angepaßt werden. Die dafür benötigte „Regelleistung“ wird entweder durch Ausnutzung von Leistungsreserven bereits laufender Kraftwerke oder von Bedarfskraftwerken bereitgestellt, was zusätzliche Kosten verursacht.

Nun gelingt seit dem 3. Januar dieser Ausgleich nicht mehr, mit dem Ergebnis, daß bis Anfang März ein Zeitverzug von etwa sechs Minuten aufgelaufen ist, ohne daß der Versuch einer Kompensation unternommen wurde. Entso-E hat Serbien, Montenegro und Mazedonien als Verursacher für den Frequenzeinbruch benannt. Diese Länder hätten weniger Leistung als vereinbart in die Netze eingespeist, so daß ein Energiedefizit von 113 Gigawattstunden aufgelaufen sei. Das nicht dem Verbund angehörende Kosovo soll illegal Strom aus Serbien bezogen haben. Als Reaktion darauf habe Serbien sich geweigert, auf eigene Kosten die Regelleistung einzuspeisen. Der serbische Netzbetreiber Elektromreža Srbije (EMS) gab mittlerweile Entwarnung: Seit dem 3. März halte das Kosovo die Standards wieder ein.

Auffallend und atypisch ist das allmähliche Absinken über einen relativ langen Zeitraum ohne erkennbaren Versuch, mit Regelenergie „gegenzulenken“. Insofern spricht einiges für ein „Knirschen“ hinter den Kulissen des gesamteuropäischen Verbundnetzes, das sich immerhin vom Balkan bis zu den Ländern an der Westküste erstreckt.

Insider vermuten finanzielle Interessen außerhalb des Balkans, auch im Zusammenhang mit der deutschen Energiewende. Wenn etwa die Regelleistung zur Stabilisierung des durch höchst volatile Solar- und Windstromeinspeisungen gefährdeten deutschen Netzes besser vergütet wird als der Ausgleich von Defiziten im europäischen Verbundnetz, dann liegen die Prioritäten der Erzeuger klar auf der Hand.

Ein großes Problem scheint auch in der französischen Stromerzeugung zu liegen. Aufgrund der Kältewelle im Februar konnten von installierten 63.000 Megawatt nur 51.000 abgerufen werden. Frankreich sah sich gezwungen, alte Ölkraftwerke zu reaktivieren und massiv Strom zu importieren, während im Regelfall französischer Kernkraftstrom Deutschland aus der Klemme hilft.

Übertragungsnetzverband Entso-E: www.entsoe.eu