© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Apologetik des gewaltsamen Widerstands
Der Historiker Alexander Sedlmaier analysiert mit viel Verständnis die Rolle und die Geschichte von Gewalt bei den Protagonisten der 68er-Bewegung
Konrad Adam

Jubiläen müssen gefeiert werden, auch blutige Jubiläen. Und blutig war die Ernte, die aus dem langen Marsch hervorgegangen ist, der begann, als Studenten und Professoren beschlossen, die Rolle des revolutionären Subjekts, in die das Proletariat durchaus nicht eintreten wollte, selbst zu übernehmen. Ihre akademische Herkunft hängt der 68er-Bewegung bis heute nach, im Guten wie im Bösen. Sie hat ihr Unverständnis, Hohn und Widerwillen, aber auch Rückhalt, Hilfe und Sympathie beim intellektuellen Milieu des Landes eingebracht. Heinrich Böll sprach für viele, als er die Mitglieder der Roten Armee Fraktion verzweifelte Theoretiker nannte, die gewaltsamer sprächen als handelten.

Es brauchte allerdings nicht lange, bis die Praxis die Theorie eingeholt, ja überboten hatte und die ersten Toten zu beklagen waren. Über diese Toten, über Jürgen Ponto und Siegfried Buback, über Günter von Drenkmann, Hanns-Martin Schleyer und wie sie alle hießen, erfährt man in Sedlmaiers Buch „Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik“ wenig. Sie werden nur beiläufig erwähnt, denn der Autor verfolgt andere, höhere, theoretische Ziele. Er will dem Zusammenhang zwischen Konsum und Gewalt, genauer: zwischen Konsumkritik und Gewaltapologie nachspüren und läßt deshalb diejenigen zu Wort kommen, die diesen Zusammenhang am lauteten beschworen haben, den Norweger Johan Galtung und den Deutsch-Amerikaner Herbert Marcuse.

Als folgenreich erwies sich vor allem Galtungs Begriff der „strukturellen Gewalt“. Aus seiner Sicht war die Gewalt ja immer schon vorhanden, „Gegengewalt“, ein weiterer Terminus aus Galtungs theoretischem Begriffsbaukasten, also gerechtfertigt, ja geradezu geboten. Wer es wagte, sich auf das Grundgesetz zu berufen, das alle Staatsgewalt vom Volk ausgehen ließ, bekam zu hören, das eben sei ja der Skandal, die Regierung selbst bekenne sich zur Gewalt. Der Staat befand sich immerzu im Unrecht, der Bürger umgekehrt im Zustand der unvermeidlichen Notwehr. 

Marcuse dachte orthodoxer als Galtung und kam auch deshalb bei den gläubigen Studenten besser an. Auf lange Unterscheidungen zwischen Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen ließ er sich nicht ein; sein Beitrag zu der immer erregter geführten Debatte beschränkte sich auf die Rekonstruktion der alten revolutionären Theorie vom letzten Gefecht: „Wenn sie Gewalt anwenden“, verteidigte er die randalierenden Studenten, „beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die alte.“

Heute, fünfzig Jahre danach, dürften solche Simpeleien nur noch Jakob Augstein und seinen Freunden von der Antifa imponieren. Die revolutionäre Praxis der Baaders, der Ensslins und der Meinhofs hat die von Sedlmaier ausführlich repetierten Theorien der Galtungs und Marcuses vom Kopf auf die Füße gestellt, also gründlich entzaubert. Die Gläubigen von damals fühlen sich ernüchtert, haben die Seiten gewechselt (wie Horst Mahler), sich kaufen lassen (wie Joschka Fischer), sind zu Zynikern geworden (wie Hans Magnus Enzensberger) oder halten, wie die meisten, den Mund.

Alexander Sedlmaier versucht es auf einem anderen Weg, er will zurück zu den Ursprüngen, zum Überbau, zur möglichst reinen Theorie. Als Modell dient ihm die öffentliche Reaktion auf den Brüsseler Kaufhausbrand, bei dem seinerzeit ein paar hundert Menschen ums Leben gekommen oder schwer verletzt worden waren. „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“ hieß es damals auf einem Flugblatt der Kommune I: eine Frage, auf die Andreas Baader und Gudrun Ensslin die Antwort gaben, als sie das Frankfurter Kaufhaus Schneider in Brand steckten.

Im anschließenden Prozeß führten die Gutachter das große Wort. Die Crème der deutschen Germanistik, die Professoren Eberhard Lämmert, Peter Wapnewski und Peter Szondi, schlug sich mehr oder weniger umstandslos auf die Seite der Brandprediger und versicherte, daß alles gar nicht so gemeint gewesen sei. Worte sind Taten, hatte Heinrich Heine gesagt; ausgerechnet die Anwälte des Wortes wollten das aber nicht mehr wahrhaben. Günter Grass erkannte auf schwärmerischen Anarchismus und zog Parallelen zu Georg Büchners „Hessischem Landboten“. Auf den Gedanken, in seinem Büchner weiterzulesen und seinen Phrasen bis zu dem Punkt nachzugehen, „wo sie verkörpert werden“, ist auch er nicht gekommen.

Die für sein Thema entscheidende Frage: Ob man denn nicht mit weniger Konsum und Verschwendung, Apparaten und Kunststoffen leben könne – diese Frage bleibt bei Sedlmaier ohne Antwort. Sie wird auch ohne Antwort bleiben, solange sie von Leuten gestellt wird, die ihre Rettung im Sozialismus suchen. Denn der setzt auf Überflußproduktion, und darauf – auf Überfluß, Wachstum und das Züchten immer absurderer Bedürfnisse – versteht sich der Kapitalismus nun einmal besser als der Sozialismus. Jan-Carl Raspe hatte schon recht: „Nur wenn die Massen konsumieren, läuft der Betrieb.“

Die Massen konsumieren, und der Betrieb läuft. Brandstiftung, Ladendiebstahl und Schwarzfahrerei, von Sedlmaier großzügig als Zeichen des Aufbegehrens gegen den Konsumterror gewürdigt, haben daran nichts geändert. Solange die Leute dazu bereit sind, für Sonderangebote, Billigreisen und ausgefallene Klingeltöne mit einem Verlust an Freiheit zu bezahlen, wird das auch so bleiben. Denn Widerstand verlangt etwas mehr als die Bereitschaft zur Zechprellerei.






Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der „FAZ“ und Chefkorrespondent der „Welt“. Adam gründete die Alternative für Deutschland mit und war bis Juli 2015 einer von drei Bundessprechern. 

Alexander Sedlmaier: Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, gebunden 463 Seiten, 32 Euro