© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Merlin im schlesischen Totenland
Hans Pleschinski versucht vor dem Hintergrund des Lebensendes Gerhart Hauptmanns in Schlesien 1946 deutsche Schuld zu bewältigen
Wolfgang Müller

Die letzten Monate, die Gerhart Hauptmann in seiner Villa Wiesenstein im schlesischen Riesengebirge vergönnt waren, begannen am 20. März 1945 mit der Rückkehr aus dem pulverisierten Dresden und endeten dort mit dem Tod unter den Augen polnischer Besatzer am 6. Juni 1946. Ein Stoff, aus dem in der Kombination von Dichterbiographie und Zeitdrama, dem Untergang des Deutschen Reiches und seiner östlichen Provinzen, große Literatur entstehen könnte. Vorerst liegt nur eine verkitschte Bearbeitung aus der Feder des Romanciers Hans Pleschinski vor.

Kitsch unterscheidet sich von Kunst dadurch, daß er dem Leser, Betrachter oder Hörer Geläufiges reproduziert, das den Zugang zur Wirklichkeit verstellt. Kunst hingegen, so läßt selbst Pleschinski seinen Helden den Extrakt abendländischer Ästhetik sauber definieren, eröffne neue Zugänge zur Wirklichkeit, verändere „das Gefühlsleben der Menschen“, verfeinere ihren Charakter, so wie Wissenschaft „die Ideenwelt läutert, von Vorurteilen befreit“.

Daran gemessen, liefert dieser, naturgemäß auch sprachlich nie aus dem Gefängnis politisch korrekter Konventionen ausbrechende, zeithistorische Dokumentar-Roman über weite Strecken nichts als Kitsch. Weil Pleschinski eben künstlerisch nicht zu neuen Ufern segeln, sondern alte Verblendungszusammenhänge abdichten will. Darum bestätigt er unablässig jenes Zerrbild von der Geschichte des Dritten Reiches, das ein linksliberaler Bundesbildungsbürger automatisch verinnerlicht hat, zumal wenn er, wie der 61jährige Münchner Autor, seine Brötchen beim Bayerischen Rundfunk verdient und seit Urzeiten allmorgendlich wie die Süddeutsche Zeitung konsumiert.

Zwangsläufig spricht dann auch das gesamte Haus Wiesenstein bevölkernde Personal – soweit der Autor, was er gottlob häufig tut, nicht Originalzitate aus Hauptmanns Werken, Briefen, Tagebüchern montiert – in Leitartikeln von  Prantl & Co. Der rote Faden, der alle fiktiven, vom öde moralisierenden SZ-Jargon durchsäuerten Dialoge verbindet, zwischen Hauptmann und dessen „Eckermännern“ Carl Behl und Gerhart Pohl, zwischen „Merlin“ und seiner Sekretärin Annie Pollak, zwischen dem Dichter und letzten Besuchern aus Rübezahls Reich, etwa dem als Eremiten in der Nachbarschaft hausenden, amtsenthobenen Breslauer „Sprachwissenschaftler“, akkurat: Philosophen Eugen Kühnemann, ja selbst zwischen Zofe und Köchin, ist die Frage aller Fragen, die nach der „deutschen Schuld“, am Nationalsozialismus, am Zweiten Weltkrieg, am Völkermord an den Juden Europas.  

Speziell aber die nach der „Schuld“ der kulturtragenden Schicht, die Gerhart Hauptmann, der Literaturnobelpreisträger von 1912, wie sonst nur sein exilierter Antipode Thomas Mann repräsentierte. Die schwerwiegendste Anklage gegen Hauptmanns ersatzreligiöses Verständnis von „deutscher Kultur“ und „deutschem Geist“ verpackt Pleschinski in einen inneren Monolog, den er Annie Pollak aufsagen läßt: „Bildungsreich in Schande lebte man. Gewiß war nicht die Bildung schuld, sondern waren es alle jene, die ihren Humanismus nicht wirken ließen, also verrieten. Das feine Wissen um Sagen, den Zauber von Musik, den Trost durch Philosophie verschlimmerte die Schuld. Man hatte geahnt, gespürt, gewußt und gehofft, als Mensch für Menschlichkeit nicht verantwortlich zu sein. Aus dem Großteil einer Nation war ein widerwärtiges Lumpenpack geworden. So tief gesunken und ohne Aussicht auf Vergebung.“ 

Die Vorlage dieser trivialen, tausendfach deklamierten Suada stammt aus Theodor W. Adornos Musterkoffer, ist viel kürzer und deshalb so eingängig, daß sie den kleinen Sinnhunger, die bescheidenen intellektuellen Ansprüche der sich als Erben des „Lumpenpacks“ und Kinder eines „Volks von Kriminellen“ fühlenden „Generation Pleschinski“ lebenslänglich befriedigte: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ (1949).

Eine derart radikal moralisierte und versimpelte „Vergangenheitsbewältigung“ sah sich bis 1989 von der SED-Orthodoxie und ihren neomarxistischen Nachtretern im Westen dem höhnischen, doch nicht substanzlosen Vorwurf des „hilflosen Antifaschismus“ (Wolfgang F. Haug) ausgesetzt, weil die Reduktion des „Faschismus“ auf „das Böse“ etwa sozioökonomische Determinanten des Aufstiegs und der Herrschaft der NSDAP ausblendet. Ähnlich schroff distanzierte sich die Totalitarismustheorie einer Hannah Arendt von solchen ahistorischen Engführungen, die „das Böse“ aus dem vergleichenden Auge verloren, um es mit dem „Deutschen“ gleichzusetzen. 

Daß Pleschinski, Max Horkheimers Warnung ignorierend, in „Wiesenstein“ vom Kapitalismus hilflos schweigt, um trotzdem vom Faschismus phrasenreich zu reden, versteht sich bei einem liberalen, in der Kulturindustrie tätigen Clerk jedoch von selbst. Ebenso das Pochen auf die unvergleichliche Schuld der Deutschen. Was ihn stets dann zu so hektischen wie penetranten Zurechtweisungen nötigt, wenn seine Darstellung des zeithistorischen Hintergrunds Gefahr läuft, den Leser zu exkulpierenden „Relativierungen“ zu verführen. 

Die wandalische Ausweidung des Warmbrunner Palais der Grafen Schaffgotsch kontrastiert der Autor deshalb beflissen mit kriegsbedingten Zerstörungen im Leningrader Schlösserbezirk von Zarskoje Selo, die er fälschlich deutscher Artillerie anlastet. Nach gleichem Muster werden die anglo-amerikanischen Bombenangriffe auf Dresden, denen das Ehepaar Hauptmann im Februar 1945 mit knapper Not entging, als „zwangsläufige Vergeltung“ prompt mit „Warschau, Amsterdam, Coventry“ neutralisiert. Und sowjetisch-polnische Mordexzesse, die in Schlesien und den anderen preußischen Provinzen des „Totenlandes“ zwischen Oder und Memel tobten, das Menschheitsverbrechen der Vertreibung und der ethnischen Säuberung Ostdeutschlands, verrechnet Oberlehrer Pleschinski federleichten Gewissens als legitime „Rache“ an den „gescheiterten Herrenmenschen“ aus „Mörderland“, die der „Verbrecherclique an der Spree“ willig gefolgt waren. Deutsche Täter sind halt nie Opfer!

Ist das absolut Böse erst einmal von allen Zeitbezügen gereinigt, kostet es Verfechtern des Schuldkults keine Mühe mehr, es mit Volk und Nation zu identifizieren. Wer dieses Böse meiden will, erstrebe daher sein Gegenteil, das absolut Gute, Menschheit und Weltstaat. Das dazu passende nostalgische Ideal von Pleschinskis Wiesensteinern ist die kaum „Angst vor dem Offenen“ kennende, sexuelle Freizügigkeit zelebrierende Kultur der „goldenen Zwanzigerjahre“. Damals galt: „Vielfalt ist der Reichtum der Menschheit“, schwärmt Adlatus Behl, und Masseur Metzkow pflichtet verzückt bei, daß ihm der „Chef“ gestanden habe, sich „sogar eine Ehe mit einer Negerin gut vorstellen zu können“. Die in Rückblenden zur „weltoffenen“ Operettenrepublik verzwergte, ethnisch, politisch, konfessionell und kulturell tatsächlich relativ homogene  Weimarer Demokratie, deren Eliten das Reich als Großmacht restituieren wollten, ein kosmopolitisches Vorläufermodell von Merkels bunter Bundesrepublik? Das ist allenfalls eine komische Einlage, die des Autors dröge volkspädagogische Lektionen ein bisserl auflockert.

In seinen die „Zwiesprache mit Gerhart Hauptmann“ protokollierenden Tagebuchblättern notiert Carl Behl am 18. Juni 1943 einen plötzlichen Einfall seines Meisters: „Die Menschen erinnern sich zuwenig; daher erscheint es aussichtslos, daß es in den nächsten hundert Jahren besser wird auf der Welt.“ Damit wäre das Elend der „Vergangenheitsbewältigung“ und solcher an ihrem Tropf hängenden Wälzer wie „Wiesenstein“ auf den Punkt zu bringen. Viel zuwenig erinnert sich Pleschinski, weil er um der Moral willen seinen ungeheuren Stoff nicht ausschöpft. Ein bedeutender, Grass & Co. in den Schatten stellender Roman wäre ihm gelungen, hätte er sich von Gerhart Hauptmann, dessen Werk sich ihm, wie er im Epilog gesteht, während der Recherchen als „großartige Entdeckung“ offenbarte, fester an die Hand nehmen lassen. 

Weil er davor zurückscheute, drängt er das Generalthema, das von der Brüchigkeit zivilisierter menschlicher Existenz handelt, an den Textrand. Dort glücken ihm dann freilich die besten Partien, die virtuos den Bogen schlagen von der Dichtung zur Wirklichkeit, vom anthropologischen Pessimismus des monumentalen Versepos „Des großen Kampffliegers, Landfahrers, Gauklers und Magiers Till Eulenspiegel Abenteuern“ (1928) und von der in frühgriechischen Menschschlachthäusern spielenden Atriden-Tetralogie (1941–1944) bis zu einem der zahlreichen Rückfälle der Menschheit in Tierheit, zum Einbruch des Barbarischen im Zeitalter der Weltkriege, bis hinab zur Auflösung von Ordnung und Sicherheit im dörflichen Alltag,  wenn in Agnetendorf kein deutscher Polizist mehr gegen fremde Mörder, Räuber, Messerstecher und Vergewaltiger hilft, und endlich bis zum Mahlstrom der Gewalt, in dem Schlesien im Frühjahr 1945 versinkt. 

Hans Pleschinski: Wiesenstein. Roman. Verlag C.H. Beck, München 2018, gebunden, 549 Seiten, 24 Euro