© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Im gehegten Klangraum
Ferdinand Sauerbruch, Carl Schmitt, Wilhelm Furtwängler und Gustaf Gründgens: Der Germanist Helmut Lethen läßt die Preußischen Staatsräte imaginär über den NS-Staat räsonieren
Thorsten Hinz

Der Preußische Staatsrat war bis 1918 ein Beratergremium des Königs von Preußen. In der Weimarer Republik bildete er die föderative Zweite Kammer des preußischen Parlaments. Als Hermann Göring im April 1933 zum Preußischen Ministerpräsidenten aufstieg, übernahm er den altehrwürdigen Titel für ein neues, ihm beigeordnetes Kollegium, in das er neben Parteifunktionären auch Kirchenführer, hohe Beamte sowie Vertreter aus Kultur und Wissenschaft berief. 

Zu ihnen zählten der Dirigent Wilhelm Furtwängler, der Chirurg Ferdi-nand Sauerbruch und der Staatsrechtler Carl Schmitt. 1936 wurde der Schauspieler und Intendant Gustaf Gründgens berufen. Im politischen Gefüge des Dritten Reiches war der Rat ein zeremonielles Dekor des prunksüchtigen Machthabers, doch immerhin genossen seine Mitglieder einen gewissen Schutz, weil Göring darauf achtete, daß keine konkurrierende Behörde in seine Kompetenzbereiche eingriff. Andererseits wurde von den Begünstigten eine grundsätzliche Loyalität und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit erwartet.

Die vier genannten Staatsräte gehörten zur geistig-kulturellen Elite Deutschlands und genossen als Meister ihres Fachs internationale Berühmtheit. Der Germanist Helmut Lethen läßt sie in seinem Buch von 1936 bis 1963 zu sieben fiktiven Disputen zusammentreffen. Für eine tatsächliche Zusammenkunft des Kreises gibt es keinerlei Belege. Lethen knüpft an die Tradition der antiken Geister- beziehungsweise Totengespräche an: fingierte Dialoge berühmter Persönlichkeiten, in denen die Autoren sich in historischer Verfremdung zur Gegenwart äußern oder populäre Jenseitsvorstellungen karikieren.  

Die vier tauschen sich auf hohem Niveau und unterbrochen von Einschüben, erzählenden Passagen und Reflexionen über ihre Konzepte, Erwartungen, ihre Skrupel und ihren Opportunismus aus. Die Gespräche sind weitgehend aus Zitaten montiert, die den Schriften, Nachlässen, Memoiren, mündlichen Äußerungen der Teilnehmer sowie aus der Sekundärliteratur und der Presse entnommen sind. 

Sauerbruch ist der Erfinder der intelligenten Armprothese, die die Ener-gien der abgetrennten Muskeln und Nervenbahnen aufnimmt und in Bewegung umwandelt. Der Mensch muß zum „Lehrmeister seiner Gliedmaßen“ werden. So ähnlich glauben auch die Staatsräte, die bei aller Reserve zur NS-Ideologie ehrgeizig und sendungsbewußt sind, den Staat als Prothese nutzen zu können. Furtwängler, der vergeblich gegen die Verbannung jüdischer Musiker protestiert hat, möchte im „gehegten Klangraum“ die Tiefe der deutschen Musik bewahren. Der homosexuelle Gründgens – den Sauerbruch für einen entkernten, gänzlich geheimnislosen Menschen hält –, wird zu einer Erscheinung von mephistophelischer Majestät, wenn er auf der Bühne die im Menschen schlummernden dunklen Möglichkeiten enthegt und zelebriert, „wie das schwarzgallig Böse die Silberhülle des humanistischen Gymnasiums durchbricht“.

Das Hauptinteresse des Autors gilt Carl Schmitt, der sich gern als Fürstenerzieher des „Führers“ betätigen würde, aber keinen Zugang zum Machthaber bekommt. Schmitt ist das Zentralgestirn der Runde, vor allem um seine Begriffe kreisen die Gespräche. Um den Staat zu befrieden und seine Einheit zu gewährleisten, halten die Disputanten die innenpolitische Feindkennung grundsätzlich für plausibel, doch was ist der Fall, wenn der Staat zum Machtinstrument einer Gruppe verkommt, die ganz eigene Ziele verfolgt? Außerdem, so erläutert Lethen am „Stalingrad“-Roman von Theodor Plivier, braucht die Freund-Feind-Unterscheidung die Distanz, die im Extremfall, wenn beide Seiten sich in einer tödlichen Umklammerung befinden, nicht mehr gegeben ist. 

So gerät heute alles – die Führerhuldigungen der einen wie der Widerstand der anderen – in eine „Zwitschermaschine“, die der Autor sich „wie eine Skulptur von Jean Tinguely“ vorstellt, wie eine verspielte, effektiv nutzlose, mitunter zur Selbstzerstörung fähige Maschine. Der linke Intellektuelle Helmut Lethen steht im Zeitalter des geopolitisch entgrenzten Partisanenkriegs vor einer „Text-Bild-Schädelstätte mit Namen GESCHICHTE – hinter dem Rücken der Bösen und Guten“.

Die Resignation des Schlußsatzes ist die sympathischere Endform des Willens zum Guten. Die andere wäre der Fanatismus. Trotzdem mag Lethen nicht davon absehen, dezidiert gegen das Schmitt-Diktum anzuschreiben: „Das Leben kräftigt sich am Bösen, Moral leitet es ab in den Tod.“ Die Tatsache, daß geistig hochstehende Menschen sich mit dem Dritten Reich eingelassen haben, behandelt er als moralisches Skandalon, statt sie innerhalb eines internationalen politischen Interaktionsmusters verstehbar zu machen. So bietet er über weite Strecken bloß eine neue Variation über „das verfehlte Böse im deutschen Bewußtsein“ (Karl-Heinz Bohrer).

Der degoutant erwähnte Vortrag über die „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ zum Beispiel war der Versuch, dem weltweiten Interventionsrecht, das US-Präsident Roosevelt proklamierte, eine Alternative für Eu-ropa entgegenzusetzen – die freilich dadurch verdorben wurde, daß Hitler sich auf sie berief.

Die von Furtwängler dirigierte Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie am Vortag von Hitlers Geburtstag fand 1942, nicht 1943 statt. Lethen fehlt das Gespür dafür, daß Furtwängler hier den höchsten Zeitausdruck erreicht, indem er den Jubel- in einen angstgepeitschten Höllenchor verwandelt, und ihm künstlerisch gelingt, worüber Thomas Mann im „Faustus“-Roman bloß räsonierte. Den berühmten Handschlag, den der verlegen dreinblickende Dirigent mit Goebbels tauscht und der in István Szabós Film „Taking Sides – Der Fall Furtwängler“ in Zeitlupe zerdehnt wird, enthält eine andere Aussage, als Szabó und Lethen meinen. Goebbels unterläßt – am „Führer“-Geburtstag! – den Hitlergruß, weil er damit rechnet, daß er Furtwängler irritieren und die Szene für die Wochenschau unbrauchbar machen würde.

Es gibt noch reichlich Gesprächsbedarf über das Böse! Andere Autoren sollten den Faden aufnehmen, den Helmut Lethen gesponnen hat.

Helmut Lethen: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich. Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt. Rowohlt Verlag, Berlin 2018. gebunden, 351 Seiten, 24 Euro