© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Die Grenzen der Integration
Außereuropäische Zuwanderung: Der schwache deutsche Staat fügt sich in seinen Mißbrauch
Thorsten Hinz

Die Vorstellung einer millionenfachen Integration außereuropäischer Kulturangehöriger in die europäischen Gesellschaften war von Anfang an auf Sand gebaut. Schon die Lektüre von Roland Barthes’ (1915–1980) „Mythen des Alltags“ aus dem Jahr 1957 hätte das Illusorische dieser Annahme klarmachen können. Die „Mythen“, die Barthes analysiert, sind die Erscheinungen, mit denen der moderne Mensch durch Medien, Werbung, Film oder Konsumkultur konfrontiert wird und die ihm aufgrund ihrer Allgegenwart als selbstverständlich und naturhaft erscheinen. Barthes zeigt, daß es sich um raffinierte Inszenierungen handelt, durch die Aussagen getroffen und Meinungen transportiert werden, auch in politischer Absicht.

So dechiffriert Barthes eine Titelseite der Zeitschrift Paris Match von 1955, die einen jungen Afrikaner (Barthes schreibt: Neger) in französischer Armeeuniform zeigt, der den militärischen Gruß erweist. Sein Blick ist auf etwas gerichtet, das außerhalb des Bildes liegt. Es muß sich um einen magischen, auf jeden Fall bedeutungsvollen Gegenstand handeln, der den konzentrierten Gesichtsausdruck rechtfertigt. Barthes vermutete, daß der Afrikaner auf die Trikolore schaut.

Frantz Fanon forderte einen Emanzipationsprozeß

Das Foto ist zunächst ein „Zeichen“, also eine assoziative Einheit aus zwei Bestandteilen: Der eine Teil ist der Signifikant, das Bezeichnende, die Ausdrucksseite, die materielle Form. Der andere ist das Signifikat, also die Bedeutung oder der Sinn. Das Bild wird von der Präsenz des Mannes beherrscht, so daß der Eindruck eines „spontanen, unschuldigen, unbestreitbaren Bildes“ entsteht. Dem Betrachter teilt sich mit, daß der Abgebildete die afrikanische Herkunft, das Soldaten- und das Franzosentum in seiner Person vereint. Das ist die scheinbar neutrale Mitteilung

Doch die Präsenz des Afrikaners, schreibt Barthes weiter, sei in Wahrheit „domestiziert, abgedrängt“. Er sei seiner „Geschichte beraubt, in Gesten verwandelt“ worden. Tatsächlich erzählt das Foto nichts von seiner Herkunft, der Geschichte seiner Familie und seines Stammes mit, nicht von den Mythen und Erinnerungen, die in ihm schlummern. Seine Person wird definiert durch die Uniform und durch die Huldigungsgeste an den französischen Staat. Er ist dazu verurteilt, „ein bloß instrumenteller, dienlicher Signifikant zu sein“, der die „französische Imperialität“ legitimiert.

Das verweist auf den historischen Kontext des Bildes. Ein Jahr zuvor, 1954, hatte die französische Kolonialmacht in Dien Bien Phu in Vietnam eine vernichtende Niederlage erlitten und mußte sich aus Südostasien zurückziehen. In Algerien hatte der Unabhängigkeitskrieg begonnen Der Regierung in Paris schwebte vor, das restliche Kolonialreich in ein französisches Commonwealth umzuwandeln. Eine Idee, die sich nicht gegen, nur mit den Afrikanern umsetzen ließ. Dazu wurden die kulturelle und zivilisatorische Mission Frankreichs, sein Republikanismus und der Universalismus der Französischen Revolution als Angebot offeriert.

Das Bild korrespondiert mit den politischen Interessen Frankreichs dieser Zeit, es visualisiert die staatliche Propaganda und transportiert einen politischen Mythos. Der Mythos ist ein Meta-Zeichen, ein „sekundäres semiologisches System“, in dem die Außenseite (Signifikant) und die Bedeutung (Signifikat) des ursprünglichen Zeichens für den Betrachter identisch geworden sind. Die Inszenierung des multiethnisch-republikanisch-patriotischen Frankreich in der Gestalt des domestizierten Afrikaners soll erstens als selbstverständlich und naturhaft begriffen und zweitens mit der weitergehenden Bedeutung (Signifikat) verknüpft werden, „daß Frankreich ein großes Imperium ist, daß seine Söhne, ungeachtet der Hautfarbe, treu seiner Farbe dienen und daß es keine bessere Antwort auf die Gegner eines angeblichen Kolonialismus gibt als den Eifer, mit dem dieser Schwarze seinen angeblichen Unterdrückern dient“. 

Aus diesem Mythos, laut Barthes zugleich „Anrufung“ und „Aufforderung“, spricht ein noch intaktes europäisches Machtbewußtsein und ein Machtgefälle: Der Schwarze ordnet sich diszipliniert den Vorgaben der Kolonialmacht unter, er übernimmt ihre Uniform, die Gesten, Rituale, ihren Ethos. Indem er sich integriert, entfremdet er sich jedoch seiner Herkunft und erklärt sich damit einverstanden, weiter kolonisiert zu werden. Das ist die Ausgangslage, von einem weißen Europäer nüchtern beschrieben.

Zur selben Zeit hat Frantz Fanon (1925–1961), ein auf Martinique geborener Nachfahre schwarzer Sklaven, Arzt, Publizist, revolutionärer Gesellschaftskritiker, die Situation aus schwarzer Perspektive analysiert. Ein Afrikaner im Dienst der Europäer sei ein Neurotiker, der mit dem „Zusammenbruch des Ichs“ lebt. Er „unterhält keinerlei Beziehung zur nationalen, das heißt zur französischen, europäischen Struktur“ und muß zwischen Herkunft und Familie auf der einen und der Gesellschaft auf der anderen Seite wählen. Die Integration verstärkt seine Neurose, denn er wird sich in der ihm fremden weißen Umgebung als „inferior“ – unterlegen, minderwertig – fühlen. Fanon forderte einen Emanzipationsprozeß der Schwarzen: „(...) das kolonisierte Ding wird Mensch gerade in dem Prozeß, durch den es sich befreit“. Der Prozeß sollte die Renaissance einer „negro-afrikanischen Kultur“ und eines „afrikanischen Bewußtseins“ einschließen. 

Fanon konzipierte damit die heutige Identitätspolitik nichtweißer beziehungsweise nichteuropäischer Bevölkerungsgruppen und Kulturen. Der Prozeß würde für die Europäer nicht folgenlos bleiben, denn: „Der Kolonisierte ist ein Verfolgter, der ständig davon träumt, Verfolger zu werden.“ Fanon war davon überzeugt, daß der Reichtum Europas auf den geraubten Gütern Afrikas beruhte, die Afrika sich zurückholen müsse

Rechts- und Kulturstaat verkommen zu Steinbrüchen

Tatsächlich hat die Ankunft von Millionen Afrikaner und anderer Dritte-Welt-Angehöriger in den europäischen Metropolen diese mehrheitlich nicht dazu bringen können, sich in die vorgefundenen Prozeduren und Spielregeln einzufügen. Die mitgebrachten kulturellen, psychologischen, sozialen Voraussetzungen, Erwartungen und Interessen sprechen dagegen. Schon Fanon ließ Spott anklingen über die „‘bleibenden Werte’ des Westens“, die er als geronnene Machtverhältnisse ansah.

60 Jahre später befinden die europäischen Staaten sich im freien Machtverfall und können keine Vorgaben wie mit dem Titelbild von Paris Match mehr machen. Mit der Folge, daß Demokratie, Rechts- und Kulturstaat zu Steinbrüchen verkommen, aus denen Migranten Wurfgeschosse für einen alle Vorstellungen sprengenden Verteilungskampf entnehmen. Die Identitätspolitik liefert ihnen die Begründung. Die hauptsächliche Leistung von Funktionären und Wortführern aus dem afrikanisch-muslimischen Raum besteht darin, die Diskriminierungstrommel zu schlagen, um Vorteile und Ablaßzahlungen zu erpressen.

Innovativ, bereichernd und originell ist daran überhaupt nichts! Widerstandlos fügt der schwache deutsche Staat sich in seinen Mißbrauch. Der Berliner Senat startete im November vorigen Jahres die Plakatkampagne „Farbe bekennen“ zum Thema „Typisch deutsch“, in der Flüchtlinge ihre Erwartungen formulierten. Sie lauteten unter anderem: „Chancen haben“, „Sich frei fühlen und unabhängig sein“, „Respektiert werden, wie man ist“, „Daß Frauen für ihre Rechte kämpfen“. Man will ungeniert Ansprüche geltend machen können.

In Frankreich war Christiane Taubira aus Französisch-Guayana unter dem unglücklichen François Holland vier Jahre lang Justizministerin. Zuvor hatte sie als Abgeordnete für ein Gesetz gekämpft, das den Sklavenhandel mit Schwarzen zum historischen Verbrechen erklärte. Den im Vergleich zum europäischen viel älteren arabischen Sklavenhandel marginalisierte sie mit der Begründung, die arabischstämmigen Jugendlichen sollte nicht die Erblast ihrer Vorfahren tragen müssen. So wird die Geschichte zum beliebigen Reservoire für einen gegen das weiße Europa gerichteten afro-arabischen Psychokrieg.

Als italienische Ministerin für Integration amtierte von 2013 bis 2014 Cécile Kyenge, eine im Kongo gebürtige Ärztin. Kaum im Amt, richtete sie ihr  Programm nicht an den Interessen Italiens und Europa aus, sondern verkündete, sie wolle dafür sorgen, daß allen in Italien geborenen Immigranten automatisch und ohne Bedingungen die italienische Staatsbürgerschaft verliehen würde. Sie forderte eine „wirksame Aufnahme- und Integrationspolitik für die Migranten, die täglich an den italienischen Küsten landen“, sowie ein Gesetz gegen „Volksverhetzung“ und die Neufassung des Antidiskriminierungsgesetzes.

Die vorstaatlichen Loyalitäten, die darin zum Vorschein kommen, sind subjektiv verständlich. Objektiv handelt es sich um kulturelle und psychologische Bruchlinien, welche die unüberwindlichen Grenzen der Integration markieren. Man hätte es spätestens seit Barthes und Fanon wissen können.