© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Dorn im Auge
Christian Dorn

Zurück im Stammcafé des russischen Sektors: Der Künstler ist empört, Rußland des Attentats auf den ehemaligen Doppelagenten in London zu bezichtigen, da es gar keine Beweise gäbe. Das sei die typische westliche Hetze. Ich stelle mir vor, wie die Wahrnehmung wäre, würden in einer Stadt über Jahrzehnte nahezu ausschließlich die Gäste eines bestimmten Restaurants, und zwar nur deren bedeutendste Kritiker, auf zuverlässig mysteriöse Weise ins Jenseits befördert, ermordet von dubiosen Tätern, deren Hintermänner stets im Dunkeln bleiben. Selbst dann, wenn die Opfer das Restaurant seit Jahren meiden und nur Gastrokritiker oder Nachwuchsköche jener Lokalität unterstützen. Zumal wenn deren Mannschaft erklärt hat, daß die „Feinde“ dieser Gastronomie zu liquidieren seien.


Das erinnert mich an die jüngste Pressereise in Asien. Bei der Bemerkung vom „Putin-Regime“ verdreht die elegante, hochprofessionelle, polyglotte Tass-Korrespondentin die Augen – und erklärt, auf Nachfrage zum ausgegrenzten Oppositionsführer Alexei Nawalny, daß das doch nicht stimme: Der habe doch gar nicht an den Wahlen teilnehmen wollen. Ich bin sprachlos, meine Lippen öffnen sich nur kurz wie bei einem Fisch im Wasser. Um nicht „ins Schwimmen“ zu kommen, erzähle ich einen Witz aus der DDR-Schulzeit Mitte der achtziger Jahre, der freilich das Dogma der Dialektik beschwor: Demnach erscheine in der Parteizeitung Prawda (dt.: Wahrheit) nie eine Nachricht respektive Neuigkeit, und in der Iswestija (dt.: Nachrichten) nie eine Wahrheit.

 

Heftiges Kopfschütteln dagegen bei der Kollegin des größten brasilianischen Medienkonzerns, die ungläubig die Titelzeile der Taipei Times in meinen Händen abliest, die Merkels vierte Kanzlerschaft verkündet: „How? Can Merkel do it forever?“ Selbst in ihrer Heimat sei die Regentschaft auf zwei Amtszeiten hintereinander begrenzt. Geradezu entspannt und vertraut erscheint mir indes der hemdsärmelige Kollege aus Manila, wie ein zweiter Billy Six, der die mörderische Politik des philippinischen Staatschefs Duterte kritisiert – im Unterschied zur schönen Philippinin im Flugzeug neben mir, die als Sales-Managerin eines europäischen Elektronikkonzerns arbeitet und die globalisierte MeToo-Mentalität selbständiger junger Frauen repräsentiert, wie neben ihr die Ukrainerin aus Lemberg, die in Vietnam Deutsch und Englisch unterrichtet, oder die junge Polin, die in Hongkong Englisch lehrt. Allesamt Priesterinnen der lingua franca – zieht uns doch das Ewig-Weibliche hinan.