© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Vorgestrige Lektionen zur „deutschen Daseinsverfehlung“
Geschichtsideologie in der Endlosschleife: Der emeritierte Historiker Hans-Erich Volkmann über die Polenpolitik des Kaiserreichs
Oliver Busch

Für den Kulturwissenschaftler Aby Warburg, der bekanntlich den Geist einer Epoche anhand eines Briefmarkenmotivs entfaltete, wohnte der liebe Gott im Detail. Was verraten dann Dutzende von Detailfehlern, wie sie Hans-Erich Volkmann in seiner Großstudie über „Die Polenpolitik des Kaiserreichs“ unterlaufen, über den Geist der Zeit, dem dieser Freiburger Emeritus, ein langjähriger Wissenschaftlicher Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA), huldigt?

Volkmann macht zahllose Fehler im Detail, aber es sind nur wenige Fehler, die leicht wiegen. Ist es doch schon recht gravierend, den preußischen Kultusminister Moritz August von Bethmann Hollweg (1795–1877) mit seinem Enkel, dem Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1856–1921), zu verwechseln. Oder Gerhard Anschütz, einem führenden Staatsrechtler der Weimarer Republik, die Verfasserschaft an einem „Handbuch für Strafrecht“ anzudichten.  

Noch peinlicher, für einen ehemaligen MGFA-Direktor, ist Volkmanns Fama zu Generaloberst Hans von Seeckt, der bis 1926 an der Spitze der Reichswehr stand. Der habe, als „unter polnischen Mitbürgern aufgewachsener Ostdeutscher“, während des Ersten Weltkrieges verständnisvolle Weitsicht in der „Polenfrage“ bewiesen. Tatsächlich folgte der 1866 in Schleswig geborene Generalssohn den Versetzungen seines Vaters, die ihn über Berlin und Detmold westwärts nach Straßburg führten, wo er 1885 seine Reifeprüfung denkbar fern von „polnischen Mitbürgern“ ablegte. 

Und dann wäre da noch Albert Einstein, der als eine Art Raketenpionier figuriert, der „den Weg ins Weltraumzeitalter“ ebnete, und nicht etwa mit seiner Relativitätstheorie half, das Tor zum Atomzeitalter aufzustoßen. Klingt aber zumindest ähnlich. So wie bei Theodor Schiemann, dem „Begründer der deutschen Ostforschung“, immerhin die Himmelsrichtung stimmt. Mehr aber auch nicht, denn der 1921 verstorbene Kurländer, eine wilhelminische Koryphäe der Rußland-Forschung, hatte nichts zu tun mit der in der Wissenschaftskonkurrenz primär mit Polen in den 1920ern entstandenen „Ostforschung“. 

Genug. Zurück zur Ausgangsfrage: was lehrt solche Faktenuntreue? Doch wohl das Mißtrauen gegenüber einem Autor, der womöglich nicht nur im Detail mit der historischen Wahrheit auf Kriegsfuß steht. Ein Verdacht, den seine „Meistererzählung“ über die preußisch-deutsche Polenpolitik von 1885 bis 1918, zwischen Bismarcks fehlgeschlagenen Ansiedlungsprojekten in Posen und Westpreußen und der unglücklichen Handhabung der „polnischen Frage“ durch Bethmann Hollweg und die Oberste Heeresleitung, vollauf bestätigt. 

Nach uraltvertrautem Muster, dem bis 1989 auch Volkmanns Kollegen mit SED-Parteibuch gehorchten, soll hier einmal mehr das „annexionistische Axiom deutscher Politik“ in abschreckend-greller Beleuchtung schillern. Von Bismarcks „Urzelle einer verfehlten Ostpolitik“ zu Heinrich Himmler, Hans Frank und der SS-Herrschaft im Generalgouvernement ist es daher bei Volkmann nur ein Katzensprung. Selbstverständlich wird von ihm deutsch-polnische Geschichte nie als Ineinander von Aktion und Reaktion begriffen. Folglich gibt es nur einen deutschen „Drang nach Osten“, keinen polnischen „Drang nach Westen“, nur deutsche „Täter“ und nur polnische „Opfer“. 

Keine „Entnationalisierung“ der polnischen Minderheit

Was Volkmann, dem man als Schüler des großen Osteuropa-Historikers Gotthold Rhode mehr zugetraut hätte,  hier anödend referiert, ist nichts anderes als die tausendste volkspädagogische Lektion zur „deutschen Daseinsverfehlung“. Die schlampige Routine, mit der solcherart Anleitungen zur Entsorgung historischen Bewußtseins und zu nationaler Selbstauflösung von bundesrepublikanisch sozialisierten Geschichtsideologen, die wie Volkmann im neunten Lebensjahrzehnt stehen, inzwischen abgeleiert wurden, signalisiert wie vorgestrig, wie historisch diese Art Historiographie inzwischen selbst geworden ist.

Dabei schrammt Volkmann so regelmäßig wie zwangsläufig stets haarscharf  am wahrhaft aktualisierbaren Potential dieses Kapitels deutsch-polnischer Beziehungen vorbei, aus der sich politisch gegenwärtig wirklich viel lernen ließe. Etwa zum Problem „Integration“. Trotz günstigster Voraussetzungen, gemeinsamer christlicher Leitkultur, Orientierung an gemeinsamen zivilisatorischen Standards, trotz hoher polnischer Bereitschaft, von den Deutschen zu lernen, um den „Prozeß eigener Selbstmodernisierung“ voranzutreiben, trotz der assimilierenden Macht von Schule und Militär, gelang die „Entnationalisierung“ der polnischen Minderheit in den preußischen Ostprovinzen nicht. Wieviel wäre daraus zu lernen, um die multikulturelle Hybris zu korrigieren, eine kultur- und zivilisationsfremde afro-orientalische Millionenpopulation nach Europa zu verpflanzen. 

Hans-Erich Volkmann: Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2016, gebunden, 517 Seiten, Abbildungen, 58 Euro