© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Tödliche Gefahr aus heiterem Himmel
Im Frühjahr 1918 entwickelten die Deutschen ein Ferngeschütz, das über eine Distanz von hundert Kilometern die französische Hauptstadt erreichen konnte
Karl-Heinz Schuck

Am 23. März 1918 um 7.20 Uhr erschüttert eine Explosion aus heiterem Himmel die französische Hauptstadt. Um 7.45 Uhr eine weitere, dann nahezu viertelstündlich. Deutsche Kampfflugzeuge sind nicht zu sehen. Fieberhaft suchen die offiziellen Stellen die Ursache. Am Nachmittag reift dann die Erkenntnis, daß Paris unter dem Feuer deutscher Ferngeschütze liegt.

Ein Blick zurück ins Jahr 1916: Deutsche Marineoffiziere, zuständig für die Führung der schweren Artillerie an der Westfront, baten die Heeresleitung um Genehmigung von Personal und Material zum Bau eines Geschützes mit hundert Kilometer Reichweite. Da die Front neunzig Kilometer von Paris entfernt verlief, erfolgte sofortige Zustimmung, denn Ludendorff erkannte die Möglichkeit, im Verbund mit einer großen Offensive die Moral der Hauptstadt zu brechen. Nachdem die Marine zusammen mit den Krupp-Werken die vielen technischen Probleme des Projektes weitgehend gelöst hatte, mußten nach dem Rückzug auf die Hindenburglinie nochmals neue Lösungen gefunden werden. Schließlich war nun die Forderung nach 120 Kilometer Schußweite zu erfüllen.

Das zu Ehren des Kaisers „Wilhelm-Geschütz“ getaufte Waffensystem wurde zu einer bemerkenswerten Leistung deutscher Ingenieurskunst: In ein 17 Meter langes Rohr im Kaliber 381 Millimeter wurde ein weiteres Rohr im Kaliber 210 Millimeter mit elf Meter Länge eingesetzt und am Ende ein drittes, glattes Rohr von sechs Metern. Man erhielt so eine gesamte Rohrlänge von 34 Metern bei 138 Tonnen Gewicht, welches durch ein Spannwerk mit Stahlseilen stabilisiert werden mußte. Zum Verschuß der neu entwickelten Granaten wurde ein spezielles Treibladungspulver benötigt, das mit 250 Kilogramm Menge in die fünf Meter lange Geschoßkammer eingebracht wurde. Da man feststellte, daß die Abnutzung des Rohres sehr schnell fortschritt, wurde die Munition von Nummer 1 bis 65 durchnumeriert und die Treibladungsmenge schrittweise erhöht. Beim 65. Schuß waren es 15 Kilogramm mehr als beim ersten, danach erfolgte ein Aufbohren des Rohres.

367 Granaten wurden Richtung Paris abgefeuert

Der Transport der insgesamt 256 Tonnen schweren Geschütze erfolgte zerlegt mit der Eisenbahn. In den drei extra für die Parisgeschütze angelegten, betonierten Feuerstellungen, die mit einer kugelgelagerten Drehscheibe ausgestattet waren, erfolgte die Endmontage. Die Stellungen bei Crépy und ihre Gleisanschlüsse waren bestens gegen Luftaufklärung getarnt. Der Aufbau der Anlagen erforderte insgesamt vier Monate Zeit.

Einen Tag nach Beginn der großen Offensive am 21. März (JF 12/18) erging der Feuerbefehl: „Eröffnen Sie morgen früh das Feuer auf Paris!“ Bereits am zweiten Einsatztag der neuen Waffe wurde der französischen Seite klar, daß mehrere Geschütze im Einsatz sein mußten, da die zeitlichen Abstände zwischen den Einschlägen sehr kurz waren. Mögliche deutsche Feuerstellungen wurden errechnet und von französischer Artillerie unter starkes Feuer genommen, aber ohne Wirkung. Zeitgleich mit den Parisgeschützen feuerten immer mehrere deutsche Batterien, so daß eine genaue Ortung nicht möglich war.

Im März und April wurde die Beschießung verschieden intensiv fortgesetzt, dann wieder Ende Mai mit dem deutschen Angriff am Chemin des Dames. Danach noch an zwei Tagen im Juli und an fünf Tagen im August. Wohl wegen des Verschleißes der Geschützrohre hatten sich Pausen von bis zu fünf Wochen ergeben, ebenso mag der kurzfristige Bezug einer näher an Paris gelegenen Stellung eine Rolle gespielt haben.

Die letzte von 367 Granaten, von denen etwa die Hälfte den Stadtkern erreicht haben und 255 Zivilisten das Leben kosteten, wurde am 9. August abgefeuert. Der Vormarsch der alliierten Truppen erforderte den Rückzug der Geschütze, die nach Deutschland zurück verbracht und dort zerstört wurden. Ebenso erging es den Konstruktionsunterlagen, so daß die Gegner nach Kriegsende außer den ehemaligen Feuerstellungen nichts in Händen halten konnten.

Beeindruckend bleibt bis heute, daß man mit damaligen Mitteln in der Lage war, Granaten bis in eine Höhe von 38.600 Metern zu feuern, die dann nach rund drei Minuten Flugzeit eine Strecke von etwa 110 Kilometern überwunden hatten und noch mit einer gewissen Präzision ihr Zielgebiet trafen.