© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Postsowjetische Mischung
Der russisch-britische Doppelagent Sergej Skripal soll mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok vergiftet worden sein / Der Einsatz neurotoxischer Waffen ist seit der Antike bekannt
Jörg Schierholz

Es scheint wie eine Fortsetzung von Ian Flemings James-Bond-Roman „Liebesgrüße aus Moskau“: Am 4. März 2018 wurde der russisch-britische Doppelagent Sergej Skripal zusammen mit seiner Tochter Julia auf einer Parkbank in der malerischen südenglischen Kleinstadt Salisbury bewußtlos aufgefunden. Am 12. März teilte dann Premierministerin Theresa May mit, daß die beiden mit „Novichok agent“ vergiftet wurden – was „höchstwahrscheinlich“ für eine russische Täterschaft spreche.

Fünf- bis achtmal tödlicher als das Nervengift VX

Moskau bestreitet dies, nun soll eine weitere Analyse in den Labors der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag erfolgen. Bekannt ist zumindest: Die Nowitschok-Gifte („Neuling“) wurden in den siebziger und achtziger Jahren in der damaligen Sowjetunion entwickelt. Die Giftgruppe ist fünf- bis achtmal tödlicher als das Nervengift VX, mit dem Kim Jong-nam, der verstoßene Halbbruder des nordkoreanischen Staatschefs Kim Jong-un, 2017 in Malaysia umgebracht worden sein soll. Im Gegensatz zu den bei bekannten Waffensystemen eingesetzten flüssigen Nervengiften handelt es sich bei den Nowitschok-Substanzen um ultrafeine Pulver, welche über die Haut aufgenommen werden.

Die Wirkung des binären Kampfstoffes entfaltet sich erst, wenn die für sich unbedenklichen Einzelkomponenten beim Opfer zusammengebracht werden. Die Wirkung der meisten Nervenkampfstoffe führt zu einer Übererregung der Nerven und schließlich Blockade der Erregungsübertragung. Die ersten Symptome der Vergiftung sind Erbrechen, Bewußtlosigkeit, und ohne Gegenmittel sterben die exponierten Personen qualvoll an Herzstillstand oder Erstickung, je nach Dosierung innerhalb von Stunden. Die Antidote der medizinischen Notfallausrüstung von Nato-Soldaten enthalten deshalb als Anticholinergikum Atropin sowie Enzymreaktivatoren.

Die Sowjets begannen mit der Entwicklung von Nowitschok als Reaktion auf das Chemiewaffenprogramm der USA, die seit den fünfziger Jahren vergleichbare Kampfstoffe (Bigeye-Programm/BLU-80) herstellten. Das Bigeye-Projekt wurde 1990 im Rahmen eines bilateralen Abkommens mit der Sowjetunion eingestellt. Unklar ist, ob das Nowitschok-Programm wirklich eingestellt wurde. Während des Kollapses der Sowjetunion 1991 und der folgenden Wirtschaftskrise verloren viele Wissenschaftler des Vielvölkerstaates ihre Lebensgrundlage, und es wird seitdem spekuliert, ob Kriminelle oder Terroristen mit Hilfe dieser Know-how-Träger in den Besitz oder das Wissen zur Herstellung von Nowitschok kamen.

Aufgrund der extrem hohen Toxizität und komplexen chemischen Synthese ist anzunehmen, daß nur wenige hochspezialisierte Labors die Substanz sicher handhaben können. Interessanterweise wurde Nowitschok nicht von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) gelistet. Fraglich erscheint unter diesen Umständen, über eine präzise chemische Analyse den Hersteller und noch weniger den Anwender von Nowitschok identifizieren zu können.

Die Vorläufer-Generation von Nowitschok entstammt der sogenannten V-Reihe („Victory“), welche ursprünglich von dem britischen Konzern Imperial Chemical Industries (ICI) primär als Pflanzenschutzmittel („Organophosphate“) entwickelt wurde und später in den USA militärische Verwendung fand. Kim Jong-nam soll eine dieser VX-Substanzen ins Gesicht gesprüht worden sein, worauf er qualvoll verstarb.

Medial am bekanntesten ist der Mord an dem bulgarischen Dissidenten und Schriftsteller Georgi Markow auf der Londoner Waterloo Bridge im Jahr 1978 mittels einer mit dem pflanzlichen Rizin getränkten Regenschirmspitze. Das Attentat lieferte 1980 zunächst die Vorlage für die französische Agentenkomödie „Le Coup du parapluie“ („Der Regenschirmmörder“) mit Pierre Richard und Gert Fröbe. Eine BBC-Dokumentation („The Umbrella Assassin“ 2006) oder das Buch „Duft nach Weiß“ der bayerischen Krimiautorin Stefanie Gregg (Pendragon-Verlag 2016) liefern hingegen ernsthaftere Informationen über die Auftraggeber und Organisatoren: die Staatsführung in Sofia und die damaligen Geheimdienste von Bulgarien und der Sowjetunion.

Einsatz im Vietnamkrieg und im Ersten Golfkrieg

Der Einsatz von chemischen Waffen mit neurotoxischer Wirkung ist seit der Antike bekannt, als die Perser Pech und Schwefel verbrannten, um römische Legionäre zu vergiften. Schon 21 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg thematisierte die Times die Entwicklung von Chemiewaffen mit Bezug auf Dokumente des britischen War Office Committee on Explosives. Im August 1914 kam es dann zum ersten Einsatz chemischer Kampfstoffe durch französische Truppen und daraufhin von deutscher und französischer Seite mit schleimhautreizenden Gasen. Später wurde Giftgas exzessiv verwendet – mit etwa 90.000 Toten und einer Million Soldaten mit teilweise schweren Gesundheitsschäden.

In dem Konzept der kolonialen Herrschaft und Kontrolle aus der Luft von Winston Churchill im Jahre 1919 sollte die Royal Air Force die Kontrolle über die Kolonien in Afrika und Asien übernehmen und dies ausdrücklich mittels Giftgaseinsätzen realisieren. Der Gas-einsatz wurde 1925 im Genfer Protokoll geächtet. Nur die Japaner setzten im Zweiten Weltkrieg als einzige kriegführende Nation Giftgas gezielt gegen chinesische Truppen und Zivilisten einein. Das Deutsche Reich verzichtete zumindest auf den direkten Kriegseinsatz.

Mit dem Eintritt der USA in den Vietnamkrieg 1965 erfolgte dann wieder ein massiver Einsatz chemisch-biologischer Kampfstoffe („Agent Orange“). Im Ersten Golfkrieg (Irak gegen Iran 1980 bis 1988) wurden systematisch Chemiewaffen (Senfgas, Tabun, Sarin, VX) eingesetzt. Der bekannteste Fall:  Bei einem Giftgasangriff der irakischen Luftwaffe starben im März 1988 in der irakischen Stadt Halabdscha fast 5.000 Kurden – vor allem Frauen und Kinder.

Nervengifte oder Neurotoxine als relevanteste Untergruppe chemischer Waffen erzielen ihre Wirkung auf Nervenzellen schon in geringen Dosen. Natürlich vorkommende Nervengifte sind Toxine und Schwermetalle wie Blei, Cadmium, Quecksilber und Thallium. Neurotoxischer Nervengifte stammen von Schlangen, Spinnen (Echte Witwen), Pilze (Mutterkornalkaloide, Psilocybin), Mikroorganismen (Botulinustoxin, Tetanospasmin) und Nachtschattengewächse (Alkaloide).

Neben dem Militär, den Geheimdiensten oder bei der kriminellen Erbfolgeregelung werden Neurotoxine auch ohne verbrecherische Energie vielfältig eingesetzt. Die Eingeweide von Kugelfischen speichern beispielsweise das neurotoxische Tetrodotoxin (TTX), welche als Nervenkitzel von mutigen Japanern so lange verspeist werden, bis erste Anzeichen einer Giftwirkung auftreten. Adlige Frauen strichen sich den Saft der Tollkirsche (Atropin) ans Auge, um große Pupillen und feuchte Augen zu bekommen.

Quecksilber wurde bis zum 19. Jahrhundert bei der Syphilis eingesetzt. Das bakterielle Nervengift Botulinustoxin hemmt Gesichtsmuskeln für Monate und läßt Falten verschwinden, hilft aber auch bei übermäßigem Schwitzen sowie bei der Schmerzbehandlung (Muskelverspannungen im Kopfbereich, Kopfschmerzen, Neuralgien, Migräne). Das südamerikanische Pfeilgift Curare wird bei manchen Operationen eingesetzt, um Muskulatur ruhigzustellen.

Informationen der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW):  opcw.org/