© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Zeugnisse der Zeit
Ein Berliner Online-Händler bietet Hunderttausende alte Postkarten an
Felix Krautkrämer

Inge schreibt an Heinz, Herta schreibt an Gerda. Friedrich schreibt an Oskar, und Paul grüßt seine Eltern. Es sind fröhliche Zeilen und unbeschwerte. Keine Sorgen, keine Alltagsnöte und -probleme. Das Tageserlebte wird geschildert: eine Wanderung, ein Spaziergang am Strand, eine Dampferfahrt oder die Einkehr in ein Restaurant. Man beschreibt die Landschaft in schwärmerischem Ton und gibt einen ausführlichen Wetterbericht – verbunden mit der dringenden Empfehlung, der Empfänger müsse unbedingt einmal selbst an diesen sagenhaften Ort reisen.

1,5 Millionen Ansichten in der Datenbank

Ansichtskarten sind mehr als nur ein Urlaubsgruß, sie sind wie ein komprimiertes Tagebuch. Es gibt sie trotz Facebook, SMS, Whatsapp und anderen „Messengern“ auch heute noch. Kein Strandladen, der sie nicht in den typischen Drehständern zum Verkauf anbietet, keine Touristen-Boutique, in der man nicht aus einer Vielzahl von Motiven und Formaten wählen kann. Gerade in Zeiten der sozialen Medien ist eine Postkarte auch ein Zeichen der Wertschätzung. Man sucht ein Motiv aus, nimmt sich die Zeit für ein paar Zeilen, macht sich Gedanken und läßt den Empfänger damit wissen, daß man an ihn denkt.

Als es noch keine Handys gab, kein Telefon für jedermann, waren sie eine der wenigen Gelegenheiten, den Lieben in der Heimat mitzuteilen, daß es einem gutgehe. Und man konnte, da der Diaprojektor auch noch nicht erfunden war, den Freunden und Verwandten Ausschnitte von dem zeigen, was man mit den eigenen Augen gesehen hatte: den Blick vom Berg ins Tal, ein imposantes Gebäude, die örtliche Tracht oder das Lieblingsrestaurant am Ort. Früher hatte jedes Wirtshaus und Hotel, das etwas auf sich hielt, seine eigene Postkarte – ein Werbemittel, für das der Versender sogar noch bezahlt.

Doch Ansichtskarten sind auch Zeugnisse der Zeit. Auf ihnen überdauert, was Krieg, Fortschritt, Altersschwäche oder dem Zeitgeist zum Opfer fiel. Wer hat sich noch nicht selbst gefragt, wie die eigene Heimat wohl vor hundert Jahren aussah: die Universitätsstadt, das Nachbardorf mit seinem Schulgebäude, die Feuerwache, die Kirchweihe, der Stadtpark. Wie mag das Ausflugslokal damals ausgesehen haben, von dem heute nur noch ein paar Fundamente zeugen? Wie die Bismarckwarte, die bei Kriegsende einer Sprengung zum Opfer fiel?

Motive aus den Kolonien bis zu den Ostgebieten 

Die Antwort findet sich mitunter wie so oft im Internet. Auf dem Verkaufsportal ansichtskartenversand.com. Der digitale Postkartenhändler ist wie eine Zeitmaschine. Man gibt eine (aktuelle) Postleizahl oder einen Ortsnamen ein und schon erscheinen Gebäude, Landstriche und Menschen aus längst vergangenen Tagen. Das Ostseebad Binz um die Jahrhundertwende? Gibt es bereits ab 4 Euro, je nach Wahl gelaufen (verschickt) oder ungelaufen (unbeschrieben). Wernigerode mit Blick auf den Brocken? Gelaufen, 1901, guter Zustand, 5 Euro. Der Geburtsort der JUNGEN FREIHEIT, Kirchzarten im Dreisamtal? Ortsansicht in schwarzweiß, ungelaufen ohne Datum, 12 Euro.

Bis zu 700.000 Ansichtskarten scannen Ondre Reher, Dusan Bartko und Igor Wachtel mit ihrem Team jedes Jahr für ihr Portal ein, mit Vorder- und Rückseite. Momentan sind in der Datenbank mehr als 1,5 Millionen Karten erhältlich. Wer zuschlägt, bekommt die Originalkarte schon wenige Tage später in einer Klarsichthülle per Post nach Hause geliefert.

Schwerpunkt der Kartenhändler bilden Motive aus Deutschland. Sie haben aber auch zahlreiche Ansichtskarten aus den ehemaligen deutschen Gebieten, den Kolonien, anderen europäischen Ländern, Südamerika, Asien und Afrika im Verkauf. Daneben gibt es weitere Rubriken wie Feldpostkarten, Berufe, Adel, Expeditionen, Schauspieler oder Reklame. Gegründet 1994 in Halle/Saale, begannen Bartko und Reher sich schon kurze Zeit später auf den Handel mit Ansichtskarten zu spezialisieren. 2000 folgte der Onlineshop und 2003 der Umzug nach Berlin. Wer will, kann hier nach Vereinbarung seine erstandene Postkarte mittlerweile sogar selbst abholen und den rund 20 Mitarbeitern bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen. 

Doch Vorsicht: Wen die Sammelleidenschaft einmal gepackt hat, der wird künftig kaum mehr eine Postkarte verschicken, ohne sich dabei zu fragen, wer diese wohl in fünfzig oder hundert Jahren in den Händen halten und lesen könnte.