© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/18 / 30. März 2018

„Ganz großes Drama“
Was war Achtundsechzig? Spaß, Ernst, Trauma? Von allem etwas, vor allem aber „kerndeutsch“, so Peter Gauweiler, der damals dabei war – als RCDS-Student im Kampf gegen den linken Goliath
Moritz Schwarz

Herr Dr. Gauweiler, waren Sie ein 68er?

Peter Gauweiler: Ich habe mich immer als ein 68er-Contra gesehen. 

Sie waren damals in den Zwanzigern, waren politisch, haben Teach-ins von rechts gemacht. Kann denn ein 68er nur links sein?

Gauweiler: Die 68er sahen sich selbstironisch als „kleine radikale Minderheit“ – und wir waren die Minderheit in dieser Minderheit.

„Wir“ meint den RCDS, dessen Münchner Chef Sie 1968 waren und als der Sie an der Uni in „vorderster Front“ standen. 

Gauweiler: Wir kämpften darum, uns zu behaupten. Die Apo versuchte, unsere Veranstaltungen zu verhindern oder zu kippen. Für die waren wir natürlich das Allerletzte. Unsere täglichen Beziehungen hatten aber auch etwas Spielerisch-Fundamentales – wenn es nicht die Toten und den Terror gegeben hätte. 

Wie meinen Sie das?

Gauweiler: Heute kann man die Auseinandersetzung zwischen den Mainstream-Etablierten und der AfD auf dem Millimeterpapier des Verfassungsstaates abbilden: Grundgesetz so oder anders auslegen, beim Asyl oder bei der Euro-Rettung. Damals aber ging es gegen die bundesrepublikanische Ordnung in ihrer Gesamtheit: Einführung einer Räteherrschaft in Deutschland, Sieg im „Volkskrieg“ und Weltrevolution. Ganz großes Drama und Echauffement – irgendwie hatte das auch was Theaterhaftes. Wenn man so darüber nachdachte, konnte man sich auch schieflachen. 

Eigentlich erscheint die Zeit damals aber doch haßerfüllt gewesen zu sein?

Gauweiler: In München war es nicht so extrem wie in Frankfurt oder Berlin. Vielleicht weil der gewalttätige Höhepunkt mit den Schwabinger Krawallen 1962 schon hinter uns lag, oder es war das bayerische Gemüt oder der Föhn.

Kaum zu glauben, aber wahr: Sie waren damals ausgerechnet mit dem Oberkommunarden Fritz Teufel befreundet!

Gauweiler: Nicht „befreundet“. Es gab Sympathie aus der Entfernung. Ich hatte ihm einmal angeboten, auf einer unserer Veranstaltungen zu sprechen, und er war bereit, das Angebot anzunehmen. So fing das an. Mal fuhr ich ihn von der Mensa ins Gefängnis Stadelheim, damit er seinen Haftantritt nicht verpaßte, und er bastelte mir später einen Radler aus Draht als Hochzeitsgeschenk. 

Ihrerseits war also nie Haß im Spiel?

Gauweiler: Nein. Ich fand die Auseinandersetzungen damals immer sehr unterhaltend. Stellen Sie sich eine langweilige Party vor, keiner ist da, mit dem Sie über Ihr Thema – Politik – reden können. Dann kommt endlich ein Gast an den Tisch, der sich als Redakteur irgendeiner linken Zeitung entpuppt. Eigentlich ein Lieblingsfeind. Aber der Abend ist gerettet! Frei nach Ernest Hemingway, wonach es Instinkte gibt, die den Menschen sowohl zum Krieger wie zum Bruder machen. Andererseits haben wir uns aber auch nichts geschenkt – inklusive Handgreiflichkeiten und ein bißchen wechselseitiges Geschubse. Aber gerade die Herausforderung hat gereizt: Sich als kleiner RCDS-Trupp einem Saal mit tausend 68ern zu stellen und gegen die Menge anzureden: ein wirklich gutes Widerstandsgefühl!

Heute gilt 1968 als eine Art innere Neugründung der Republik: Davor postfaschistische Reaktion, danach Demokratie. 

Gauweiler: Das war natürlich Quatsch. Wir standen für die Adenauerzeit: Westbindung, repräsentative Demokratie, Marktwirtschaft. Heute finden Sie ja kaum noch einen Linken, der all das nicht als positiv akzeptiert. 

Und dennoch tut das dem virulenten Mythos von der Demokratisierung der Gesellschaft durch eine antiautoritäre Heilung von 1968 keinen Abbruch.

Gauweiler: Lassen Sie sich nicht von irgendwelchen Wortgirlanden ärgern. Tatsächlich ist den meisten Leuten heute doch völlig klar, daß die Demokratisierung mit den Amis kam und daß die 68er von damals leider auch für Totalitarismus standen. Auch wenn es einige bis heute nicht zugeben wollen – insofern: wie die Eltern nach 1945. 

Eben von dieser Generation haben die 68er schmerzhafte Aufarbeitung der Vergangenheit verlangt. Bei sich selbst aber sind sie heute großzügig.

Gauweiler: Auch 68er sind eben nur Menschen.

Allerdings mit dem Anspruch, bessere Menschen zu sein – im Gegensatz zu „reaktionärem Dreck“ wie Sie und ich. 

Gauweiler: Fassen Sie sich, mein Freund. Laßt uns eher froh sein, wenn wir „Rechten“ nicht so gestrickt sind. Wir haben doch die große Auseinandersetzung um die alte Bundesrepublik gewonnen, spätestens 1989. Meinen Sie nicht, man sollte auch etwas Großmut zeigen können? 

Darum geht es doch gar nicht, sondern um den Umstand, daß die nicht ehrlich aufgearbeitete Vergangenheit der 68er Grundlage einer kulturellen Hegemonie heute ist, die – da inzwischen auch Union und FDP davon „infiziert“ sind – enormes Unheil anrichtet. Selbst Sie bescheinigten ja unlängst in einem „FAZ“-Interview: „Im Grunde waren das gute Jungs.“ 

Gauweiler: Nicht schlechter als wir. Ich habe sie erlebt. Die 68er hatten schon den starken Wunsch, die Welt zu verbessern. Übrigens eine Einschätzung, die Papst Benedikt XVI. geäußert hat.

Wieso kamen die „guten Jungs“ dann stets so arrogant und haßerfüllt daher? 

Gauweiler: Eine berechtigte Frage. Aber das ist vorbei. „Tut wohl denen, die euch hassen“, hat der Mann aus Nazareth einmal gesagt. Die alte Bundesrepublik hat das in bezug auf die 68er getan. Und die meisten von ihnen haben ihre zweite Chance genutzt. Mir wäre es unsympathisch, wenn jetzt eine Generation mit dem Wissen von heute über die Älteren zu Gericht sitzt. 

Also Gnade für die, die selbst keine übten?

Gauweiler: Wollen Sie lieber über die 68er Gerichtstag halten? Im Kleinen, wie sie es über ihre Väter im Großen getan haben? Nein, liebe JUNGE FREIHEIT, dazu habe ich keine Lust! Ich bin kein guter Bewältiger der Vergangenheit anderer Leute. Sie wissen doch: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!

Es geht nicht darum zu richten, sondern um das, was laut Rosa Luxemburg die „eigentlich revolutionäre Tat“ ist: „Zu sagen, was ist“ – in diesem Fall: was war. 

Gauweiler: Sie, Ihre Leser – wir alle wissen doch, was wirklich war! Aber immer noch eins draufsetzen? Wie wäre es – gerade von einem rechten Denkansatz her –, wenn wir uns, statt unserem inneren Affen wechselseitig Zucker zu geben, einmal fragen, was gut an 1968 war? Können Sie sich zwei Linke vorstellen, die so über Rechte reden?

Kaum.

Gauweiler: Da sehen Sie, was für eine Herausforderung das ist und was wir voraus hätten, nähmen wir sie an.

Zum Beispiel? 

Gauweiler: Ohne Achtundsechzig keine junge freiheit. 

Das mag sein. 

Gauweiler: Eigentlich müßtet Ihr denen also sogar ein Kerzlein aufstellen. 

Muß die Polizei Dieben Kerzen stiften?

Gauweiler: Der Vergleich ist unpassend – und das wissen Sie.

Er ist schief, trifft aber den Punkt.

Gauweiler: Das stimmt nicht, da klirrt nur ein rasiermesserscharfes Ressentiment durch.

Mal ehrlich, was haben die 68er gemeint, wenn Sie Demokratie gesagt haben? Linke Autokratie. Freiheit? Hedonismus. Minderheiten? Benutzt! Denn paßten diese nicht ins politische Konzept war ihr Schicksal egal. Aufarbeitung der Vergangeheit? Haß auf die Väter, denen sie in Wahrheit nicht den Nationalsozialismus, sondern die moralische Niederlage durch diesen nicht verziehen.

Gauweiler: Die halbe Wahrheit ist die ganze Lüge. Zur Wahrheit gehört, daß die Empörung über den Vietnamkrieg berechtigt und ehrlich war. Ich selbst empfand das seinerzeit ja als Verrat an den USA, die gegen den totalitären Kommunismus kämpften. Aber heute wissen wir, welche Lügen erzählt und Verbrechen in Vietnam begangen wurden. Oder die leider notwendige Offenlegung der von uns lange beschwiegenen Fehlkonstruktion im Verhältnis zur Dritten Welt und was sich der Kapitalismus diesbezüglich geleistet hat. Und was die Väter angeht: Die Wehrmachtsgeneration hat nach 1945 verdrängt, um zu überleben und überhaupt wieder aufstehen zu können. Man kann das verstehen. Aber mit „Verstehbarkeit“ hat sich noch keine Jugend zufriedengegeben. Das lateinische „Provocare“ heißt: hervorrufen. Achtundsechzig bestand auch aus großen Hervorrufungen, die uns freier gemacht haben. Und wenn Sie sagen Hedonismus – das war ja alles da! Aber eben auch das Plädoyer für einen entspannteren Lebensstil. Gegen ungesunde gesellschaftliche Zustände, von der Familie bis zur Kirche, wurde schon Generationen zuvor „Effie Briest“ geschrieben, und in München „Die Moral“ und „Frühlingserwachen“. Die 68er haben diesbezüglich Millionen deutsche Individuen „angesprungen“, die tatsächlich teilweise erstarrt waren wie Lots Weib. Natürlich war 1968 von blöden Heucheleien belastet. Aber diese Bewegung einer ganzen Generation nur auf das Negative zu reduzieren, das geht nicht! 

In der „FAZ“ haben Sie die Achtundsechziger „kerndeutsch“ genannt. Inwiefern das?

Gauweiler: Wenn der Blick sich weitet, erkennt man, daß Achtundsechzig in der Tradition deutscher Jugendbewegungen steht, angefangen beim Sturm und Drang, den Leiden des jungen Werther – und noch mehr Karl und Franz Mohr! Bei allem Abstoßenden: In der Rückschau führt diese Traditionslinie der 68er zu einer gewissen Veredelung.

Bitte?

Gauweiler: Vergessen Sie nicht: Michael Kohlhaas und seine Revolte sind bis zur Hälfte der Novelle verstehbar und hochsympathisch. 

Haben die 68er nicht vor allem zerstört?

Gauweiler: Natürlich auch. „Macht kaputt, was euch kaputtmacht!“ Sie haben das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Aber jeder weiß das doch.

Was haben sie zerstört?

Gauweiler: Die Unbestrittenheit von Fleiß, Ordnung, Demut, Vaterlandsliebe. Übrigens auch der Treue. In den „Acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“ des Nobelpreisträgers Konrad Lorenz läßt sich die verheerende Wirkung dieser Vorgänge gut nachlesen.

Ist das Hauptvergehen der 68er vielleicht die Auflösung der Form?

Gauweiler: Vielleicht ja, denn Auflösung führt zur Entmenschlichung – zu Verhaltensstörungen, wie man sie bei uns in einer überfüllten Bahnhofshalle beobachten kann oder am Wühltisch eines Kaufhauses im Schlußverkauf. Eine Welt, in der die 68er letztlich selbst nicht hätten leben wollen. 

Wie gefährdet sind wir heute, wo wir unter dieser Auflösung leiden?

Gauweiler: Die meiste Auflösung passiert derzeit in Afrika und Nahost. Wir sind noch relativ behütet, deswegen wollen ja so viele zu uns.

Aber welche Schuld ... 

Gauweiler: Entschuldigung, das ist ein jakobinisches Stakkato: „Schuld, Schuld, Schuld!“ Das paßt doch gar nicht zum Konservativen. 

Ist meine Aufgabe nicht, das Gespräch voranzutreiben?

Gauweiler: Sicher, und ich will Ihnen das „J’accuse“ gar nicht ausreden, aber wo bleibt das Konservative, wenn es keine Gelassenheit mehr gibt? Bei aller Liebe zu Émile Zola: Einer meiner Vorbilder ist der Mann, der 1912 im Salon der Titanic das Ende mit einem Drink erwartete: „Laßt uns als Gentlemen sterben!“ – Benjamin Guggenheim. 

Ist das Thema nicht zu ernst für solche Gelassenheit? Denn was etwa den Totalitarismus angeht, ist 1968, anders als 1933, zwar glimpflich abgegangen, doch hätte es auch anders ausgehen können: Unter anderen Umständen hätten sich ebenso die Radikalen durchsetzen können. Dann wäre Peter Gauweiler vielleicht im Gulag verschwunden und die CSU-Elite in einem „Killing Field“ verscharrt worden. 

Gauweiler: Mit den 68ern für sich genommen hätte es wohl nicht so schlimm ausgehen können, dazu waren sie zu sehr Micky-Maus-Revolutionäre. Aber man darf in der Tat nicht vergessen, daß kein Geringerer als Henry Kissinger noch 1970 der Überzeugung war, daß ganz Europa zehn Jahre später kommunistisch sein würde. Und ja, 1789 und 1917 haben sich die Jakobiner und die Bolschewisten, also die Radikalen, durchgesetzt. Andererseits: Die Geschichte bleibt ja nie stehen. Übrigens lebt man heute als junger, tatkräftiger Unternehmer in Ho-Chi-Minh-Stadt vermutlich besser als im von Brüssel regierten Bukarest – um die Verwirrung komplett zu machen. 

Der Historiker Jörg Friedrich berichtete von einem 68er – nennen wir ihn Meyer –, der, weil er nicht müde wurde anzukündigen, bei der Machtübernahme massenhaft Menschen töten zu lassen, „Millionen-Meyer“ hieß. Doch die Revolution fiel aus, und so wurde „Millionen-Meyer“ statt Massenmörder Lehrer. 

Gauweiler: Es gibt fürchterliche Zitate aus dieser Zeit. Aber es war eben auch ein Kinderkreuzzug – mit eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit aller Akteure. Und der für sein späteres geschichtliches Werk hochgeschätzte Jörg Friedrich, der als Student auch bei einer K-Gruppe war, bedarf diesbezüglich der Gnade wie alle anderen Dabeigewesenen. 

Wird nicht eben dieser eliminatorische Totalitarismus von 1968, statt als Wesenskern anerkannt, bis heute nur als Auswuchs verharmlost? 

Gauweiler: Achtung! Ihre Begrifflichkeit paßt nicht. Rechter Verfolgungswahn ist nicht besser als linker. Der Freiheitsdrang der Akteure von damals lief oft genug auf innere Unfreiheit hinaus. Aber das war nicht ihr Wesenskern. Bei allen Selbsttäuschungen – sie wollten geliebt werden!






Dr. Peter Gauweiler, der „schwarze Querulant“ (Spiegel), der sich bei den Medien den Beinamen  „CSU-Rebell“ erworben hat, gilt – ob seiner Sturheit bei gleichzeitiger geistiger Beweglichkeit und Unabhängigkeit vom Parteiestablishment – als eine der wenigen politischen Legenden der Christsozialen sowie als Vorzeigekonservativer. CSU-Mitglied seit 1968, war der ehemalige bayerische Staatsminister von 2002 bis 2015 Mitglied des Bundestags und von 2013 bis 2015 stellvertretender Parteivorsitzender. Geboren wurde der Rechtsanwalt und langjährige Zeitungskolumnist 1949 in München. 

Foto: CSU-Recke Gauweiler: „Fassen Sie sich, mein Freund. Wir haben die große Auseinandersetzung doch gewonnen – spätestens 1989. Meinen Sie nicht, wir sollten etwas Großmut zeigen?“

 

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