© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/18 / 30. März 2018

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Betretenes Schweigen
Jörg Kürschner

Nichtssagend sind allzu oft die Reden im Bundestag, vielsagend dagegen ist oft der Gesichtsausdruck der Redner und ihrer Zuhörer. Zu beobachten während der Debatte über die Regierungserklärung zu Beginn der vierten Amtsperiode Angela Merkels. Scheinbar zerknirscht räumte die Kanzlerin Fehler ein, gab zu, die Flüchtlingskrise habe die deutsche Gesellschaft gespalten. Ihre Kernbotschaft aus dem Herbst 2015 „Wir schaffen das“ wurde flugs umgedeutet in einen „unglaublich banalen Satz“. Ungewohnt selbstkritisch kommt Merkel in ihrem 13. Amtsjahr daher, versprach unermüdlichen Einsatz, um den Zusammenhalt der Gesellschaft wieder zu stärken. Dabei fielen verräterisch oft Bemerkungen wie „Seien wir ehrlich“, „Sagen wir die Wahrheit“, wie FDP-Fraktionschef Christian Lindner zu Recht kritisierte. Ihre Analyse ging aber nicht so weit, daß sie die Grenzöffnung im Herbst 2015 als Fehler bezeichnete. Eine „humanitäre Ausnahmesituation“ sei das gewesen.

Allmählich verfinsterte sich nun das Gesicht von Horst Seehofer, dem „aus Bayern abgeschobenen neuen Innenminister“ (Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch). Der CSU-Chef hatte wenige Tage zuvor eine Selbstverständlichkeit wiederholt, nämlich festgestellt, daß der Islam nicht zu Deutschland gehört. Merkel fühlte sich offenbar provoziert, widersprach umgehend und setzte im Bundestag noch einen drauf. Mit Blick auf die 4,5 Millionen Muslime sagte sie, „daß ihre Religion inzwischen ein Teil Deutschlands geworden ist“. Seehofer erstarrte auf der Regierungsbank. Mit einem quasi amtlichen Rüffel kam der gerade erst zurückgetretene bayerische Ministerpräsident erkennbar nicht zurecht. „Dafür fehlt mir jegliches Verständnis“, wird der Gescholtene bald darauf in einem Interview entgegnen. 

Doch auch Merkel war ihr Ärger anzusehen. Als Seehofer sich langsam von dem rhetorischen Tiefschlag erholt hatte, trat Alexander Gauland ans Rednerpult. Der Fraktionschef der größten Oppositionspartei zitierte genüßlich den CSU-Mann, der die Politik der Masseneinwanderung als „Herrschaft des Unrechts“ gebrandmarkt hatte. Verdrießlich nahm Merkel Gaulands Philippika zur Kenntnis, blätterte in Schriftstücken, um ihr Desinteresse zu bekunden. Doch es kam noch schlimmer. Denn das Seehofer-Zitat ist ein altbekanntes, das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz dagegen nicht. Zu der illegalen Einreise eines Flüchtlings stellten die hochrangigen Richter Anfang 2017 nüchtern fest: „Die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik ist in diesem Bereich jedoch seit rund eineinhalb Jahren außer Kraft gesetzt, und die illegale Einreise ins Bundesgebiet wird momentan de facto nicht mehr strafrechtlich verfolgt.“ Betretenes Schweigen im Bundestag bei CDU/CSU, SPD, FDP, Linken und Grünen, als Gauland resümiert: „Rechtsbruch als Dauerzustand, und kein Ende abzusehen.“ Kein Thema während der mehrstündigen Aussprache über Merkels Regierungserklärung. Hatte die Kanzlerin in ihrer Eröffnungsrede nicht einen „Pakt für den Rechtsstaat“ gefordert?