© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/18 / 30. März 2018

An die Schalthebel gelangt
Konsens der Sympathisanten: Die 68er-Revolte gehört heute zur Legitimationsbasis der Republik
Karlheinz Weißmann

Vor fünfzig Jahren erschütterten die „Osterunruhen“ die Bundesrepublik. Ursache war das Attentat auf Rudi Dutschke, den Führer der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO), am Gründonnerstag. Unmittelbar nach Bekanntwerden des Anschlags zog eine erregte Menge vor das West-Berliner Springer-Haus in der Kochstraße. Bis zum Ostersonntag wuchs die Zahl der Angreifer auf etwa zwölftausend, das Gebäude mußte fast einhundert Stunden lang von zehntausend Polizisten verteidigt werden. Es wurden Steine und Molotowcocktails geworfen und zuletzt Vertriebslastwagen in Brand gesteckt.

Gleichzeitig tobte in Frankfurt am Main zwei Nächte lang eine Straßenschlacht um das sogenannte „Springer-Viertel“. In München stürmten dreihundert junge Leute das Buchgewerbehaus, in dem Bild für Süddeutschland gedruckt wurde, rissen Akten aus den Schränken und warfen sie aus dem Fenster. In Eßlingen errichteten Demonstranten aus PKWs eine Wagenburg vor dem Druckhaus Bechtle, das für Springer die südwestdeutsche Bild-Ausgabe produzierte. In Köln mußten dreihundert Polizisten am Ostersonnabend die Auslieferung von Bild am Sonntag sicherstellen. In Hannover kam es noch in der Nacht des Ostermontags zu massiven Zusammenstößen zwischen Polizei und gewaltbereiten Demonstranten, die zehn Stunden andauerten.

Die Bilanz der Anti-Springer-Kampagne war verheerend. Es handelte sich um die schlimmsten Ausschreitungen in Deutschland seit dem Ende der Weimarer Republik: zwei Tote, mehr als dreihundert Verletzte, Sachschaden in unbekannter Höhe.

Die Bilder dieser Ereignisse werden beim offiziellen und halboffiziellen Erinnern an ’68 keine oder nur eine Nebenrolle spielen. Sie wirken auch heute noch verstörend auf den Betrachter. Die Enthemmung und Brutalität der Akteure auf seiten der APO passen nicht zusammen mit dem Mythos ’68. Der wird bestimmt von Ikonen, die eine ganz andere Botschaft transportieren: die Kommunarden mit leicht bekifftem Gesichtsausdruck, die Studentin, die sich über den toten Benno Ohnesorg beugt, die lachenden Demonstranten, die im Laufschritt „Ho Ho Ho Tschi Minh!“ rufen, die Tapferen, die sich an einem Holzkreuz festklammern, während die Polizei mit Wasserwerfern gegen sie vorgeht, Dutschke auf dem Vietnamkongreß, vor dem Plakat mit dem Bild des Partisanen, die Faust emporgereckt, vielleicht noch Andreas Baader neben Gudrun Ensslin mit den maskenhaft geschminkten Augen, Marcuse unter seinen Verehrern, Habermas hinter dem Pult, der vor dem „linken Faschismus“ warnt, und Adorno im Gespräch mit den Besetzern des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.

Abgesehen von den Kriegen dürfte ’68 eines der am besten fotografisch dokumentierten Ereignisse des 20. Jahrhunderts gewesen sein. Aber das bedeutet gerade nicht, daß wir einen objektiveren Eindruck haben, nur daß die vorherrschenden Interpretationen auch optisch gestützt werden. Und die tendieren in der Regel dazu, das, was damals geschah, als leicht aus dem Ruder gelaufene Jugendbewegung zu deuten. Die Protagonisten haben es jedenfalls gut gemeint, das Beschweigen der braunen Vergangenheit beendet, das Duckmäusertum ausgetrieben, dafür gesorgt, daß wir alle etwas lockerer und freier geworden sind. Letztlich, so lautet das Fazit, fand 1968 die Umgründung der Bundesrepublik als zivilisiertes Gemeinwesen statt, nach Jahrzehnten der „Restauration“ und „Renazifizierung“ (Eugen Kogon).

Daß dieses Verständnis heute dominiert, hat damit zu tun, daß die Deutungshoheit im Hinblick auf ’68 lange bei den Achtundsechzigern selbst lag. Sie haben zwar nicht den Guerillakrieg entfesselt oder den Aufstand der Randgruppen oder den Klassenkampf des Proletariats, von dem sie träumten, aber doch jene „lautlose Revolution“ (Ronald Inglehart) zustande gebracht, die dazu geführt hat, daß sie selbst und dann ihre Erben an die Schalthebel des Bildungswesens und der Medien gelangten. 

Denn nur eine Minderheit der protestierenden Studenten, die unter roten Fahnen marschierten, die Mao-Bibel hochhielten und sich mit der Lektüre von Marx oder der theoretischen Schriften irgendeines Vertreters der Frankfurter Schule abmühten, ging in den Untergrund; eine andere schloß sich irgendeiner kommunistischen Sekte an oder suchte meditierend oder Bio-Gemüse anbauend die eigene Mitte. Die große Mehrzahl mäßigte Erscheinungsbild und Argumentation, hörte das unerwartete Lob der „kritischen jungen Leute“ aus dem Mund des neuen Bundeskanzlers Willy Brandt, beschloß mit ihm „mehr Demokratie“ zu wagen und sickerte in das verhaßte „System“.

Der Widerstand dagegen wurde nach kurzer Zeit immer schwächer, und in Teilen der Gesellschaft, vor allem da, wo man Meinungen machte, gab die „Neue Linke“ plötzlich den Ton an, schleppte Verhaltensweisen und Vorstellungen ein, die, wenn auch nicht sofort, dann doch Schritt für Schritt zu einer grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft führten. Die wird gewöhnlich und wohlwollend als „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas) bezeichnet, hat aber faktisch eine Art sozialer und staatlicher Knochenweiche bewirkt, die erst jetzt wirklich spürbar wird.

Vielleicht erklärt das auch, warum sich hier und da Stimmen gegen den Konsens der Sympathisanten erheben. Ein interessantes Beispiel ist der „Ehemalige“ Wolfgang Eßbach, Mitglied des SDS und in den entscheidenden Jahren 1967/68 AStA-Vorsitzender der Göttinger Universität. In einem Interview sprach sich Eßbach gegen das aus, was er die „Vergemütlichung von Achtundsechzig“ nennt: „Achtundsechzig hat die Bundesrepublik bereichert, aber es gab auch ein ungemeines Maß an Haß, Intoleranz und Wahnvorstellungen bei den Revoltierenden. Von dieser abgründig destruktiven Seite von Achtundsechzig höre ich zu wenig.“ Eßbach glaubt, daß es an der Zeit wäre, ’68 zu historisieren, das heißt, nicht länger Bewältigung zu betreiben oder Verklärung, sondern eine Analyse des Geschehens voranzutreiben.

Dagegen wird es allerdings massive Widerstände geben. Denn ’68 ist eben kein geschichtliches Ereignis wie andere auch. Es gehört heute zur Legitimationsbasis der Bunten Republik, und diejenigen, die daran festhalten wollen, haben kein Interesse an einer Bilanz, in der nur am Rande von dem bunten, fröhlichen Treiben jugendlicher Idealisten die Rede wäre, und im Zentrum die Frage nach den Opfern stünde und den verbrauchten und zerschlissenen kulturellen und institutionellen Beständen, die die Achtundsechziger zu verantworten haben.