© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/18 / 30. März 2018

Keine Solidarität ohne Homogenität
Massenimmigration contra Sozialstaat: Für eine starke Bürgerschaft in einem wiederbelebten Nationalstaat
Wolfgang Müller

Ob wirklich exakt 95 Prozent der „Schutzsuchenden“ samt Zweit- und Drittfrauen ins hiesige Weltsozialamt streben, um mit leistungslosem Grundeinkommen hier gut und gern zu leben, wie der Schriftsteller Uwe Tellkamp unlängst behauptete, ist „umstritten“. Vielleicht sind es eher „99 Prozent“ (Michael Klonovsky). Jedenfalls sehr, sehr viele für den Arbeitsmarkt hierzulande nicht Qualifizierte und nicht Qualifizierbare, die  dem deutschen Steueresel jetzt schon jährlich mindestens 30 Milliarden Euro aus der Tasche ziehen.

Tellkamps Vorstoß, passend zur Notbremse, die die Essener Tafel zugunsten ihrer deutschen Klientel zog, kündet von der erreichten Obergrenze der Solidarität in der Willkommenskultur. David Abraham, Historiker und Jurist an einer Privat-Universität in Miami, spezialisiert auf Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsrecht, dürfte das Aufbrechen solcher Konfliktlinien nicht überraschen. Sein Ende 2017 veröffentlichter Beitrag über „Einwanderung im Wohlfahrtsstaat“ (Der Staat, 4/2017) geht bereits vom Rollback aus. „Vom Ural bis zu den Rocky Mountains“ mehren sich die Anzeichen für eine Renaissance nationaler Verantwortungsgemeinschaften, des „souveränitätsbezogenen Wohlfahrtsprotektionismus“. Hingegen erweist sich die weltweit „Gerechtigkeit“ verheißende One-World-Ideologie für Myriaden von Verlierern täglich krasser als Chimäre.  

Der Wohlfahrtsstaat, dessen deutsche Geschichte im Bismarckreich beginnt,  und der nach 1945 in der Bonner Republik, im Gleichschritt mit der Entwicklung in Nord- und Westeuropa, unter dem Druck sowjetischer Systemkonkurrenz während des Kalten Krieges in opulentem Stil ausgebaut wurde, steht heute, bedingt durch Masseneinwanderung, zur Disposition. Was löst diese Migrationsströme aus? Diese Frage beantwortet Abraham, der in den 1970ern seine akademische Karriere als neomarxistischer Historiker begann, lediglich kursorisch: es sei der neoliberal radikalisierte Kapitalismus, der Menschen entwurzelt, um sie wie Waren zu verschieben.

Globalisierung von Ökonomie und Politik, so folgt der Verfasser Sozialtheoretikern wie Charles Tilly, Wolfgang Streeck und Rolf Peter Sieferle, schwäche Bürgerschaft und Demokratie, mindere die Fähigkeit des Staates, Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern nachzukommen. Exemplarisch wird auf Mexiko verwiesen. Dort habe die „Politik von Freihandel, Verelendung, Massenarmut“ Millionen über die Grenze in die USA getrieben, um die Reihen der „industriellen Reservearmee“ des nördlichen Nachbarn aufzufüllen. Mexiko exportiert billige Arbeitskräfte, wie alle anderen mittelamerikanischen Staaten. So lebt etwa jeder dritte von neun Millionen Salvadorianern (oft illegal) in den USA, 500.000 allein in Los Angeles.   

 „Vielfalt“ gefährdet die soziale Kohäsion

Doch zeigt sich Abraham weniger an der Analyse ökonomischer Determinanten von „Wanderungen“ als an einer  Erfassung ihrer Auswirkungen in den Zielländern interessiert. Im Zentrum steht dabei die Frage nach den Folgen für den sozialen Zusammenhalt westeuropäischer Nationalstaaten, wo noch Menschen leben, die starrsinnig „behaupten, immer dagewesen zu sein“, wie es der von Abraham zitierte Habermas-Epigone und „Multikulturalist“ Claus Offe mit dem unter den Werte-Aposteln des humanitären Universalismus üblichen Maß an Verachtung des Eigenen formuliert. 

Welchen Veränderungen werden diese Gesellschaften unterworfen? Zunächst erhöhe Immigration die „ethnische und kulturelle Vielfalt“ der in den letzten 200 Jahren entstandenen, relativ homogenen Nationalstaaten. Die heute von ihren Eliten geförderte, sanktionierte und institutionalisierte „Vielfalt“ gefährde jedoch deren soziale Kohäsion. Nur sie generiere aber jene Solidarität, auf der der Wohlfahrtstaat gründet. Also schwächt Einwanderung den nationalen Rechts- und Sozialstaat, der, wäre der Migrantenanteil auf dem Stand von 1970 eingefroren worden, jetzt mindestens 15 bis 20 Prozent mehr für soziale Dienste ausgeben, Kinder- und Altersarmut verhindern könnte. 

Eine Schwächung, die nicht ohne Folgen bleibe für die Stabilität sozialliberaler Demokratien. Denn eine ihrer wichtigsten ideellen Ressourcen sei Gleichheit. Werde das Gleichheitsversprechen durch Umverteilung zugunsten von Fremden immer weniger erfüllt, erodiere die Legitimität des demokratischen Wohlfahrtsstaates. Dieser im Bürgerkrieg mündende Zerfallsprozeß könne entweder doch Begrenzung der Zuwanderung oder durch „beschleunigte Integration“ der Neuankömmlinge gestoppt werden.

Die erste Alternative, Begrenzung des Zuzugs, bleibt bei Abraham unerörtert. Die zweite, Integration, funktioniert für ihn indes überhaupt nicht ohne „Leitkultur“, ohne „Homogenitätsbasis“ in der Gesellschaft des Aufnahmelandes. Dafür reichen weder Konzeptionen von Tröpfen wie Claus Leggewie, mit seinen „Spielregeln für die Vielvölkerrepublik“ (1993), oder Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid mit ihrer „Koexistenz von Parallelgesellschaften“ in der multikulturellen „Heimat Babylon“ (1993), noch der an Hans Kelsens Lehre von den „ausgeblasenen Eiern reiner Rechtsformen“ (Hermann Heller) anknüpfende „Verfassungspatriotismus“ eines Jürgen Habermas, der davon träume, die in „demokratischen Prozeduren“ des „herrschaftsfreien Diskurses“ fixierten Spielregeln eines blutleeren „Rechtsregimes“ taugten als sozialer Kitt.

Einen besseren Ratgeber in Sachen Homogenität meint Abraham stattdessen in Ernst-Wolfgang Böckenförde gefunden zu haben. Für den späteren Bundesverfassungsrichter lagen die „Sinnfundamente“, die „Grundsolidarität“ stiften, gemäß seines berühmten „Paradoxons“ von 1967, in vorpolitischen „Voraussetzungen“, von denen der „freiheitliche, säkularisierte Staat“ lebt, ohne sie garantieren zu können. Der Schmittianer Böckenförde hat, um dem ubiquitären „Rassismus“-Vorwurf vorzubeugen, in Selbstinterpretationen allerdings nie geklärt, ob er sich mit Carl Schmitts Verständnis von Homogenität identifiziert, das selbstverständlich auch ethnische Konstanten umfaßt. 

Gemeinsame Bindung an bestimmten Prinzipienkern

Abstammung, ins kollektive Bewußtsein transformiert als „Stammverwandtschaftsglaube“ (Max Weber), ist für Abraham jedenfalls eine kaum zu überschätzende Quelle des Vertrauens. „Wenn ich der ‘Hüter meines Bruders’ bin, dann will ich entweder auf Gegenseitigkeit oder auf familiäre Ähnlichkeit vertrauen dürfen.“ Damit sei die gemeinsame Herkunft als eine der von Böckenförde „rätselhaft und suggestiv“ formulierten präpolitischen „Voraussetzungen“ des freiheitlich-säkularen Sozialstaates hinreichend bestimmt. Als unverzichtbar treten hinzu eine gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte, Werte. 

Die „historische und bürgerschaftliche Gemeinschaft“, eine Formation, die stets auch die Geschichte eines Volkes sei, einer „Gemeinschaft des Gedächtnisses“, mit ihrer „spezifischen Anordnung von Handlungsrationalitäten, Loyalitäten, Sitten, Idealen und Verpflichtungen, die die sozialen, politischen und rechtlichen Institutionen und Kulturen“ prägen, schafft für Abraham daher einen wirklichen, nicht einen beliebigen liberalen Staat, der seine Mitglieder „durch eine gemeinsame Bindung an einen bestimmten Prinzipienkern vereinigt“. Muslime seien in Europa daher, wie Abraham unter Verweis auf Studien des Berliner Soziologen Ruud Koopmans (JF 36/16) leider mehr andeutet als expliziert, nur unter Preisgabe ihrer religiösen Identität integrierbar.

So sehen die Umrisse einer extrem anspruchsvollen Staats- und Gesellschaftspraxis aus, die gegen illegale Einwanderung in den umverteilenden Wohlfahrtstaat und für die Aufnahme in die Solidargemeinschaft hohe Hürden errichtet und „hohe Integrationsanforderungen an Migranten“ stellt. Von dieser „ethnokratischen oder exklusiven Politik“ und der von Böckenförde beeinflußten restriktiven Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Ausländerwahlrecht habe sich Deutschland  seit 1998, mit den „Reformen“ der rot-grünen Koalition zum Staatsbürgerrecht, sukzessive verabschiedet. 

Zugunsten des auf einem ökonomisch reduzierten Menschenbild fußenden multikulturellen US-Modells, das ein niedriges Solidaritätsniveau und einen kümmerlich ausgebildeten Wohlfahrtsstaat kombiniere. Damit habe Deutschland die homogene nationale Gemeinschaft als entscheidendes Element der Festigung gesellschaftlicher Solidarität und der „Fähigkeit, sich zur Wehr zu setzen“, mithin seine „Hauptverteidigungslinie“ gegen neoliberale Kräfte auf beiden Seiten des Atlantiks, preisgegeben. Nur „eine starke Bürgerschaft in einem wiederbelebten Nationalstaat“, wie Abrahams unter Berufung auf seine Gewährsmänner Böckenförde und Streeck dekretiert, „hat eine bessere Chance gegenüber einem aggressiven Kapitalismus zu bestehen als transnationale, supranationale oder multinationale Akteure“, die wie EU und UN dessen Schrittmacher sind.