© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/18 / 30. März 2018

Philosophie zum Geschehen werden lassen
Manfred Geier legt eine gelungene Doppelbiographie über die exzeptionellen Denker Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger vor
Felix Dirsch

Für viele gelten die so verschiedenen, aber doch verwandten Denker Heidegger und Wittgenstein als die herausragendsten Vertreter ihrer Zunft im vergangenen Jahrhundert. Voneinander nahmen sie kaum Notiz. Beide prägten ihre Epoche maßgeblich.

Schon die Sozialisation der 1889 geborenen Erfolgsautoren könnte kaum unterschiedlicher sein: Der eine wuchs als Sproß einer wohlhabenden Wiener Industriellenfamilie heran, der andere als Sohn eines Meßners und Handwerkers in kleinbürgerlich-katholischen Verhältnissen der oberschwäbischen Provinz. 

Beide verstanden ihre Disziplin in einem emphatisch-unkonventionellen Sinn. Wittgenstein wollte ursprünglich Ingenieur werden. Seine Suche nach Wahrheit und einer existentiellen Lebensform führte über viele Stationen: Nach den für ihn einschneidenden Erfahrungen des Ersten Weltkrieges wirkte er als Volksschullehrer, Klostergärtner und Architekt. In dieser Zeit faszinierten ihn die erregten philosophischen Debatten, insbesondere über Logik und Metaphysik. 

Auf Kontroversen der Wiener Kreise unmittelbar nach 1918, die trotz ihrer szientistischen Grundausrichtung viele existentielle Bezüge erkennen lassen, übte er nachhaltigen Einfluß aus. Seine Aufzeichnungen („Tractatus logico-philosophicus“) wurden schnell berühmt. Kaum eine philosophische Sentenz zitiert man öfter als den Schluß dieser Schrift, der fordert, über das, worüber man nicht reden könne, zu schweigen. Hier ist der Übergang vom nüchternen Logiker, der eine (umstrittene) Formäquivalenz zwischen der Sprache und dem von ihr Ausgedrückten herausarbeiten wollte, zum Mystiker evident. Naturwissenschaftliche Theoriebildung verband er mit logisch-mathematischen Theoremen, moralischen Maximen und religiöser Sinnsuche. Diese Mixtur macht bis heute den Reiz dieses ersten Hauptwerkes aus. Geier stellt diese Zusammenhänge akribisch und gut lesbar heraus. 

Anders als Wittgenstein nahm Heidegger die für eine wissenschaftliche Laufbahn üblichen Hürden: akademischer Abschluß, Promotion und Habilitation, Berufung als außerordentlicher, später ordentlicher Professor. Dennoch blieb die Kluft zur Welt des universitären Wissensbetriebes. Der Großordinarius fühlte sich nicht unter Kollegen wohl, sondern verbrachte einen großen Teil seiner Zeit auf einer Todtnauberger Hütte, wie Wittgenstein sein Domizil zeitweise in der norwegischen Abgeschiedenheit suchte. 

Viele Gäste Heideggers gaben sich dem Klettervergnügen gern hin. Als einen der wenigen damaligen Hochschullehrer sah man den passionierten Sportler gern im Skianzug. Die Resonanz seines frühen Hauptwerkes „Sein und Zeit“ war immens. Statt der herkömmlich oft betriebenen Weltanschauungs- und Wertelehre dominieren in der neuen Philosophie verbreitete Alltagsstimmungen wie Angst, Sorge, Schuld und Verzweiflung. 

Parallelen zeigen sich in späteren Lebensjahren

Wittgenstein wie Heidegger waren in die Katastrophen der Zeit involviert. Der Freiburger Gelehrte mit Weltruf ging den neuen Machthabern zeitweise auf den Leim. Er wollte mitwirken an der „Erneuerung des Volkes“ auf dem Weg „zu seiner geschichtlich-abendländischen Bestimmung“. Heidegger als „Nazi“ darzustellen, wie Geier das tut, erscheint allerdings allzu undifferenziert. Schon früh verbreitete sich in der Umgebung des Kurzzeit-Rektors das Gerücht vom „Privatnationalsozialismus“. Die imaginäre „Reise nach Syrakus“ endete mit der Bespitzelung durch die Gestapo. Unabhängig davon kauen unzählige Biographen die Verirrungen des Meisters immer wieder von neuem lustvoll durch.

Wittgenstein, der durch den zunehmenden Antisemitismus seine jüdischen Wurzeln entdeckte – drei Großelternteile gehörten dem mosaischen Glauben an –, richtete sich in England dauerhaft ein. In Cambridge fand er seine Wirkungsstätte. Von politischen Betätigungen hielt er sich weitgehend fern. Eine Reise ins Paradies der Werktätigen 1935 hinterließ kaum Spuren in seinem Werk.

Parallelen zwischen beiden zeigen sich auch in späteren Lebensjahren. Während der entnazifizierte Deutsche seine „Kehre“ fortsetzte und nach 1945 primär über das Wesen der Technik reflektierte, vollzog Wittgenstein seine „Wende“. Er favorisierte die Analyse der Alltagssprache. Seine „Sprachspiele“ erfuhren später besonders in postmodernen Begründungsmustern rege Rezeption.

Auch das Spätwerk der Altersgenossen ist von rastloser Suche bestimmt. Wittgenstein wollte das erlösende, ungreifbare Wort der Philosophie finden, Heidegger wartete hingegen auf den letzten, den rettenden Gott und gab sich fasziniert der Lektüre Hölderlins hin. Am Ende von Heideggers und Wittgensteins Lebens stand das Begräbnis im katholischen Ritus, obwohl sie sich stets mit dem dogmatischen Christentum schwergetan haben. Geiers für ein gebildetes, aber nicht unbedingt spezialisiertes Publikum geschriebene Studie endet mit der Darstellung des Liebeslebens der beiden Denker. Auch hier ist ein authentischer Impetus unübersehbar. Damit schließt sich der Kreis von Biographie und Werk.

Manfred Geier: Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Rowohlt-Verlag, Reinbek 2017, gebunden, 444 Seiten, 26,95 Euro