© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/18 / 06. April 2018

Richard Gutjahr wurde zufällig Zeuge zweier Terroranschläge und lebt nun in Angst
Gejagt im Netz
Ralf Höcker

Für Richard Gutjahr war bis zu seinem Sommerurlaub in Nizza 2016 die Welt in Ordnung. Dann, am 14. Juli, rast auf der Strandpromenade ein Islamist mit einem Lkw in eine Menschenmenge. Gutjahr zückte sein Telefon, filmte und berichtete als einer der ersten Journalisten vom Tatort – genau wie eine Woche später beim Amoklauf in München, als der 44jährige gebürtige Bonner gerade auf der Fahrt von seiner Frau, einer israelischen Politikerin, zu seinem Büro beim Bayerischen Rundfunk war.

Einigen Reichsbürgern, Verschwörungstheoretikern und Antisemiten sind dies einige Zufälle zuviel. Gutjahr ist für sie seitdem ein „Enttarnter“, das Gesicht eines „zionistischen Weltkomplotts“. Morddrohungen gegen ihn und seine Familie fanden und finden sich auf Youtube und in Online-Kommentaren. Seit anderthalb Jahren geht Gutjahr durch die Hölle. Was tut so jemand in so einer Situation?

Zunächst wartete er ab, Motto: „Bloß nicht die Trolle füttern!“ Doch als die Eiferer auch seine Familie ins Visier nahmen, bat er die Onlinebetreiber, gegen die Verleumdungen vorzugehen. Damit begann ein zermürbendes Procedere mit quälend langen Formularen und standardisierten Antworten in thailändischer Sprache, bei dem kein menschliches Augenpaar Gutjahrs Fall je sichtete. Der Gipfel der Unzulänglichkeiten: In einem automatisierten Verfahren teilte Youtube den Peinigern gar seine Privatadresse mit. Begründung: Die Streitparteien mögen sich doch untereinander einigen.

Schließlich wehrte sich Gutjahr juristisch, ließ Videos löschen. Konnte Heiko Maas’ Netzwerkdurchsetzungsgesetz ihm dabei helfen? Nein, sagt er, was plausibel ist. Denn die Grenze zwischen zulässigen und unzulässigen Äußerungen wird durch das NetzDG nicht verschoben. Zu Unrecht ist das Gesetz also von einigen als bahnbrechende Neuerung stilisiert worden. 

Zwar müssen die Betreiberplattformen „offensichtlich Rechtswidriges“ entfernen – nur mußten sie das bisher auch. Ihre Rechtsabteilungen nehmen eine unverändert anspruchsvolle juristische Prüfung vor. Diese wird dadurch erschwert, daß die Betreiber etwa der Youtube-Kanäle, die Gutjahr verunglimpfen, die Grenzen des rechtlich Zulässigen zum Teil gekonnt ausloten. Und solange sie auf typische Signalbegriffe verzichten, bewegen sie sich „unter dem Radar“ der automatisierten Filtersysteme. 

Zudem sind die Verschwörungstheorien, die um Gutjahr und seine jüdische Frau gesponnen werden, meist gerade subtil genug, um nicht als offensichtlich rechtswidrig bewertet zu werden. Ganz im Gegensatz zu  den Haßtiraden in den Kommentarleisten. Doch gegen diese braucht man kein NetzDG. Richard Gutjahr und seiner Familie bleibt zu wünschen, ihr Kampf möge mit den klassischen medienrechtlichen Instrumenten Erfolg haben.