© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/18 / 06. April 2018

Das Paradies muß warten
Sozialpolitik: Studien zeigen Grenzen des bedingungslosen Grundeinkommens auf / Ende des Arbeitszwangs?
Henning Lindhoff

Mit seiner Behauptung, „Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut“, hat Jens Spahn eine anhaltende Diskussion ausgelöst. Der CDU-Wirtschaftsflügel und Arbeitgebervertreter nickten zustimmend. Betroffene waren empört, und einer seiner Vorgänger im Amt des Bundesgesundheitsministers entgegnete: „Sie sind herzlos, und Sie sind ohne Empathie mit denjenigen, die Hartz IV empfangen müssen“, sagte Norbert Blüm in der RTL-Sendung „stern TV“.

Andere nutzten Spahns Steilvorlage, um die Idee eines Grundeinkommens neu zu beleben. „Die Arbeit wird sich in Zukunft dramatisch verändern. Digitalisierung und Automatisierung führen zu neuen Berufsbildern und in großem Umfang könnten viele, besonders einfache Tätigkeiten, wegrationalisiert werden. Ich bin überzeugt, daß es keinen Sinn macht, weiter auf Hartz-IV-Reformen zu setzen. Dieses System wird nicht mehr gerecht“, schrieb Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller im Tagesspiegel.

Völliger Ersatz aller bisherigen Sozialleistungen?

Mit einem „Solidarischen Grundeinkommen“ will der SPD-Politiker auf die kommenden Entlassungswellen der vollautomatisierten „Industrie 4.0“ (JF 24/17) antworten. Müller schränkt aber zugleich ein: Mehr Geld als bisher bekomme nur, wer „gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeiten in Vereinen, für Alleinerziehende, Mobilitätseingeschränkte, bei landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften oder in der Flüchtlingshilfe“ ausübe. Wer das nicht könne oder wolle, verbleibe selbstverständlich im bisherigen Arbeitslosenhilfe-System.

Zahlreichen Ökonomen geht Müllers rot-rot-grünes „Hartz V“ längst nicht weit genug. Sie plädieren für ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE, JF 44/17), das zudem alle oder zumindest viele der bisherigen Transfer- und Sozialleistungen ersetzen und so auch den Wohlstand besser verteilen soll. Im Kern stellen sie die These auf, daß die klassischen ökonomischen Modelle nicht mehr die heutige Realität abbilden könnten. Seit dem Goldenen Zeitalter zwischen den 1950er und den späten 1980er Jahren seien die realen Einkommen zurückgegangen, die Lebenshaltungskosten jedoch explodiert.

Daß eine Mehrheit der Deutschen dem BGE positiv gegenübersteht, zeigt eine repräsentative Studie von Splendid Research aus dem Herbst 2017. Das Marktforschungsinstitut hatte unter anderem gefragt, welchen Betrag man hierfür als angemessen erachten und ob man bei einer entsprechenden Auszahlung erwerbstätig bleiben würde. Das Ergebnis: Je nach Höhe des BGE würden bis zu 38 Prozent der Beschäftigten den Beruf oder den Arbeitgeber wechseln, ihre Stundenzahl reduzieren oder sogar überhaupt nicht mehr arbeiten. Von den Berufstätigen mit einer abgeschlossenen Lehre würden rund 25 Prozent erwägen, ihre Berufstätigkeit vollständig zu beenden. Unter Akademikern hingegen würde jeder fünfte darüber nachdenken, überhaupt nicht mehr zu arbeiten.

Sogar der Europarat hat sich schon mit der Thematik beschäftigt und 2017 eine erste Resolution verabschiedet. Auf der anderen Seite existiert nur eine schwache wissenschaftliche Basis, die die schnellere Einführung befördern könnte. Zudem wurde ein BGE noch nie in größerem Maßstab eingeführt. Experimentelle Ergebnisse, die Rückschlüsse auf soziale und psychologische Auswirkungen zulassen, existieren kaum. Wie würden sich bedingungslose Geldzahlungen auf das Arbeitsverhalten auswirken?

Mit dem „New Jersey Graduated Work Incentive Experiment“ wurde in den Jahren 1968 und 1972 erstmals versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Bei dieser Studie erhielten zufällig ausgewählte Familien in städtischen Gebieten mit einem Einkommen unter 150 Prozent der Armutsgrenze Geldtransfers, deren Höhe vom von ihnen zusätzlich erzielten Einkommen abhängig war – so wie es beim heutzutage diskutierten Grundeinkommen ebenfalls wäre. Bei den Teilnehmern konnte ein geringer negativer Effekt auf das Arbeitsangebot festgestellt werden, der in der Regel unwesentlich von der Kontrollgruppe abwich, die keine Zahlung erhielt.

Praktische Experimente mit und ohne Arbeitspflicht

Sehr viel größer war das „Seattle/Denver Income-Maintenance“-Experiment. Die Teilnehmer wurden in dreijährige und fünfjährige Auszahlungsperioden aufgeteilt. Menschen, die die Zahlung für drei Jahre erhielten, reduzierten ihre Arbeitsstunden um bis zu 7,3 Prozent, während in der Fünf-Jahres-Gruppe Arbeitszeitreduzierungen von bis zu 13,5 Prozent festgestellt wurden. Das ließ darauf schließen, daß die Verkürzung der Arbeitszeit um so höher ausfällt, je länger das Grundeinkommen ausgezahlt wird.

Das von den BGE-Befürwortern am häufigsten angeführte Experiment startete Finnland voriges Jahr mit rund 2.000 Arbeitslosen. Für 24 Monate erhalten diese eine bedingungslose Zahlung von je 560 Euro – eine Summe, die nicht ausreicht, um alle anderen Transferzahlungen des finnischen Staates abzuschaffen. Die ersten Ergebnisse des Versuchs sind jedoch ernüchternd. Nicht nur das: Helsinki hat seine sozialpolitische Richtung angepaßt. Erwerbslose werden im Modell „Aktiivimalli“ zur Arbeit verpflichtet. Bei Verstößen droht eine Kürzung des Arbeitslosengeldes um 4,65 Prozent.

Einen positiven Effekt scheint ein praktischer Versuch in Indien im Jahr 2014 gezeitigt zu haben. Das gezahlte Grundeinkommen lag hier unter dem Einkommensniveau, das nötig gewesen wäre, um alle durchschnittlichen Grundlebenshaltungskosten zu decken.Doch es fiel auf, daß die Empfänger das Geld nutzten, um ihren Kapitalstock zu erhöhen. So wurden beispielsweise Nutztiere angeschafft und Anlagen zur Wasserversorgung von Nachbargemeinschaften errichtet. Die bislang erarbeitete Datenbasis ist klein, doch die in Indien durchgeführte Studie läßt eines vermuten: In wirtschaftlich unterentwickelten Ländern nutzen Bezieher von Transferzahlungen diese, um ihr eigenes Produktivvermögen zu vergrößern und damit die Grundlage für eine wirtschaftlich eigenständige Zukunft zu legen.

In der westlichen Welt jedoch ist der Zugang zu Krediten so leicht, daß die Stärkung des individuellen Kapitalstocks nicht abhängig ist von staatlichen Ausgaben. Ziel der in Deutschland diskutierten BGE-Modelle ist eine solche Mehrung des individuellen Produktivkapitals daher nicht. Die bisher durchgeführten Versuche in den USA zeigen, daß ein BGE eher zu einer kürzeren Arbeitszeit pro Kopf führt. In Finnland stehen 2019 Parlamentswahlen an. Ob das Experiment Grundeinkommen danach fortgesetzt wird, ist mehr als fraglich.

Ökonomen wie Pierre Bessard lehnen ein BGE mit dem Argument ab: „Der Raub würde Gesetz“ (JF 24/16). Der Direktor des Liberalen Instituts in Genf ist damit auf einer Linie mit seinen Landsleuten: Die Schweizer lehnten im Juni 2016 ein BGE von 2.500 Franken mit einer Mehrheit von 77 Prozent klar ab.

Informationsportale zum Grundeinkommen:

 www.grundeinkommen.de

 www.archiv-grundeinkommen.de

 staatsbuergersteuer.de/

 www.solidarisches-buergergeld.de