© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/18 / 06. April 2018

Pankraz,
Martin Jay und die Flucht der Begriffe

Jetzt laufen den linken, marxistisch orientierten Stichwortgebern des Zeitgeistes nicht nur mehr die Anhänger davon, sondern sogar die Begriffe! In der (sich selbst so nennenden) „Lifestyle-Zeitschrift“ namens eon erhebt Martin Jay, Professor für europäische Geschichte in Berkeley (USA), bittere Klage darüber, daß der „soziale Zentralbegriff“ des Marxismus, nämlich die „Entfremdung“, gerade dabei sei, von links nach rechts überzulaufen. Kein Linker wage mehr, ihn in den Mund zu nehmen, denn alles Fremde sei für ihn ja gut und edel. Für die Rechten aber sei „Entfremdung“ ein wichtiges Leitwort in ihren Diskussionen geworden.

Pankraz vermag Jay nur zögerlich zuzustimmen. „Entfremdung“ war nie ein Zentralbegriff des Marxismus sondern eher eine Art Luxusbegriff, mit dem die linken Intellektuellen ihren an sich banalen Materialismus ausstaffierten. Ihre wissenschaftlichen Weihen erhielt die Entfremdung erstmals in der Religionsphilosophie des deutschen Großdialektikers Georg Wilhelm Friedrich Hegel, von dem ihn der junge Marx übernommen hat. Der stand ganz unter dem Einfluß der sogenannten Junghegelianer, insbesondere  Ludwig Feuerbachs, bei denen der Entfremdungsbegriff damals wie saures Bier umhergeboten wurde.

Für Feuerbach etwa war Religion ein „entfremdeter Humanismus“, der unsere besten menschlichen Eigenschaften, vor allem aber unsere Glücks- und Allmachtswünsche, an den Himmel projiziert und auf irgendwelche „fremden“ Götter übertragen hätte. Nun komme es darauf an, diese schönen Sachen durch „Handeln“ in die humane Wirklichkeit zurückzuholen. Der junge Marx setzte an die Stelle der Götter „die Arbeit“; allein das war sein eigener Beitrag zur Begriffsbildung.


In den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ von 1844 schrieb er, der moderne Arbeiter erkenne sich in dem, was er tue, nicht wieder, die „produzierte Sachenwelt“ gewinne eine „selbständige Macht“ über ihn, er sei ihr gegenüber „entfremdet“, und diese „Entfremdung“ müsse „aufgehoben“ werden, das sei das offenbarte Geheimnis der Weltgeschichte. Über das „Wie“ der Aufhebung machte Marx nur diffuse Angaben; es kann keine Rede davon sein, daß er der modernen Arbeitswelt, wie Jean Ziegler einst schrieb,  eine „alternative Totalität“ entgegengesetzt habe.

Später ließen Marx und Engels die Entfremdungsthematik fallen, begriffen ihre Lehre (man denke an die Rede von Engels am offenen Grab von Marx) als eine Variante der modernen Naturwissenschaft, als eine Art Sozialdarwinismus, mit dessen Hilfe man die Gesellschaft „wissenschaftlich“ umbauen könne und umbauen müsse. Ihre Anhänger waren’s zufrieden – bis in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts die schon halb vergessenen „ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ systematisch „wiederentdeckt“ wurden.

Sie boten den linken Intellektuellen Gelegenheit, ihre Dogmen ohne Gesichtsverlust an die ungeheuer überzeugenden Lehren Martin Heideggers anzuschließen. Es kam plötzlich ein ausgesprochen theologisches und existentialistisches Moment in den Marxismus hinein, zum Ärger der offiziellen Moskauer Hagiographen, die diese Diskussion in ihrem Machtbereich einfach unterbanden und mit Strafen bedrohten. Im Westen freilich wurde der „junge Marx“ gerade dadurch zum Geheimtip, bei Henri Lefebvre, bei Jean Hyppolite, bei den jugoslawischen „Praxis“-Philosophen.

Herbert Marcuse versuchte, den „jungen Marx“ mit Heideggerscher Fundamentalontologie aufzuladen. Erich Fromm entwickelte seine „jungmarxistische“ Theorie vom bösen „Haben“ und vom guten „Sein“, Horkheimer und Adorno die ihre von der „Entseelung“ des Menschen durch „Mimesis“. Selbst der dogmatische Georg Lukács riskierte eine Abweichung von der Parteilinie, indem er von Georg Simmel den Begriff der „Verdinglichung“ übernahm und ihn im Sinne des jungen Marx auslegte.


Pankraz selbst hat als Doktorand in Leipzig, wo das alles ja strikt verboten war, mit Hilfe des „jungen Marx“ eine „marxistische Anthropologie“ zu entwickeln versucht. Es ging dabei um den Nachweis, daß nicht nur die kapitalistische, sondern auch die sozialistische Produktionsweise entfremdet sei. Die Voraussetzungen zur Aufhebung der Entfremdung seien aber im Osten günstiger als im Westen, weil dort der Widerspruch zwischen Mensch und Natur „völlig verallgemeinert“ sei, so daß es nur noch eines Schubses bedürfe, um „Versöhnung“ zu erreichen.

Nun, die reale Entwicklung ist über derlei jünglinghafte junghegelianische Spekulationen  hinweggeschritten. Die sozialistische, grimmig  „antikapitalistische“ (also exklusiv staatliche) Produktionsweise, so hat sich herausgestellt, ist nicht nur „entfremdet“, sondern schlichtweg vernichtend. Sie ist nicht in der Lage, von sich aus etwas Positives auf die Beine zu stellen, sondern verwandelt vorhandene, übernommene Ressourcen lediglich in Schrott und Müll. Sie schändet die Natur und versklavt den Menschen viel intensiver als noch der dümmste Kapitalismus.

Was aber den Begriff der Entfremdung betrifft, so wäre – gegen Professor Jay – zu konstatieren: Er ist nicht einfach von links nach rechts abgewandert, sondern er ist buchstäblich an seinen Ursprung zurückgekehrt, wo er ja auch hingehört, Sinn ergibt und interessante, hoch wichtige Überlegungen befördert. Kein Mensch möchte innerlich entfremdet werden, und der Begriff spiegelt das ab wie keine andere Redewendung zum Thema Fremde und Fremdheit. Ihm fehlt jeglicher positive Beiklang, er ist kalt und gleichsam erbarmungslos. Wer ihn benutzt, hat keinen Ausweg mehr.

Wie schreibt Martin Jay in seinem Essay? Eigentlich sei „Entfremdung“ doch ein positives Wort, das geeignet sei „die Tugenden wechselnder Identitäten und die Zerstreuung in einer Diaspora anzuerkennen.“ Der Mann scheint wenig von der Gewalt gewisser Wörter zu wissen. Wer sich selbst entfremdet, der vermag auch keine fremden Tugenden mehr anzuerkennen. Er verschwindet im Nichts.