© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/18 / 06. April 2018

Quer durch Masuren
Geschichte auf Schritt und Tritt: Im südlichen Ostpreußen ist die Gestalt Deutschlands vor der Schwelle zur Industriegesellschaft noch zu erkennen
Sebastian Hennig

Durch flaches Land fahren wir vorbei an Posen und Thorn, dem Doppelturm des Doms von Gnesen und den Speicherhäusern am Weichselufer bei Graudenz. Erst am Nachmittag wechseln mit der Einfahrt in Ostpreußen die Gefilde ins Behagliche hinüber. Es wird wellig bis hügelig. Über Osterrode, Allenstein und Sensburg gelangen wir über schmale Alleen nach Rhein. Feldwege führen uns querfeldein zu zwei schroffen Hügeln, die Menschenhand auf knapp zweihundert Meter über dem Meeresspiegel erhöhte. Um die Erhebungen breitete sich in der frühen Eisenzeit eine größere Siedlung aus. Im Mittelalter spielten die Kuppen im Wortsinn eine hervorragende Rolle in den Kämpfen der Ritter gegen die heidnischen Pruzzen. Im Dickicht liegen Hausruinen und verwilderte Obstbäume. Drunten am Waldrand ackert ein polnischer Bauer. Über die Fläche eines Tümpels zieht ein Schwan dahin. Johann Gottfried Herder (1744–1803) hatte den majestätischen Vogel einmal als Wappentier für Ostpreußen vorgeschlagen. 

In Lötzen steht eine der wenigen Hauptkirchen von Ostpreußen, die nach 1945 evangelisch geblieben sind. An der Außenmauer kündet eine Tafel, daß „große Menschenwanderungen von Ost nach West“ erfolgten. Im Sonderlager Festung Boyen wurden Agenten rekrutiert, die unter anderem in die Kommandos der Partisaneneinheiten einsickerten und aus Moskau funkten. General Reinhard Gehlen leitete hier von 1941 bis 1944 die Abteilung Fremde Heere Ost. Mit seinen Leuten errichtete er später den Nachrichtendienst und Militärischem Abschirmdienst der Bonner Republik von Washingtons Gnaden. Im neuen Jahrtausend wurde die Abgeschiedenheit der masurischen Provinz noch einmal für ein Geheimgefängnis genutzt. In Alt Keykuth bei Ortelsburg verwahrte von 2002 bis 2004 die CIA arabische Gefangene.

Nachfahren auf den Spuren ihrer Ahnen

Der Schriftsteller Theodor Fontane, der ein britisches „Trauerspiel von Afghanistan“ als Ballade dichtete, hatte überhaupt ein feines Gespür für das Kommende. „Das Eroberte kann wieder verlorengehen, (…) Ost- und Westpreußen auch und ein Polenreich (was ich über kurz oder lang beinah für wahrscheinlich halte) entsteht aufs neue“, schrieb er bereits 1893. Die Form der Landschaft und mit ihr die Prägung durch die verschwundenen Bewohner sind erhalten geblieben. Auf dem Gebiet der heutigen Woiwodschaft Ermland-Masuren ist die Gestalt eines Deutschland vor der Schwelle zur Industriegesellschaft allenthalben noch zu erkennen. Denn es gab und gibt dort nur kleinere Landstädte, kaum Industrie, weder Universitäten noch Opernhäuser oder Museen. Immer noch kommen Nachfahren von weither, um ihren Ahnen nachzuforschen. Der Deutsche Kulturverein von Lötzen residiert etwas außerhalb in vorsorglicher Hausgemeinschaft mit Arbeitsamt und Familiengericht samt Schutzmann. An einer langen Tafel bei Kaffee und Kuchen sprechen wir mit Deutsch-Argentiniern, deren Vater 1928 von hier nach Buenos Aires aufbrach. um sich schließlich im nördlichsten Zipfel zwischen Paraguay und Brasilien ein neues Leben zu aufzubauen. Die von Deutschen urbar gemachte Provinz Misiones liegt heute als grüne Insel inmitten des verwüsteten Regenwaldes. Später heiratete er eine aus Schlesien stammende Frau. Ihre drei Söhne leben heute in ihrer Heimat weit entfernt voneinander. Erst spät fanden sie sich zu ihrer gemeinsamen Reise zusammen.  

Neben den Gutshäusern, sofern erhalten, sind die auffälligsten Einzeldenkmale prähistorische Erdwälle und die hinterlassenen Baulichkeiten des letzten Krieges. Kommandostellen wurden vor feindlichen Fallschirmjägern in den dunklen Wäldern zwischen den kristallnen Seen versteckt. An bemoosten Bunkerwänden haftet noch der begrünbare Spezialputz der traditionsreichen Gartenbaufirma Seidenspinner aus Stuttgart. Diese kahl-schwarzen Durchtritte ohne heimeligen Gesims sind heute ein militantes Merkmal der Büro-, Wohn- und Einkaufsbunker in unseren Städten geworden.

Hinter dem finsteren Viereck beginnt ein Defilee vor Kimme und Korn. Bevor er ins Innerste eintritt, kann der Ankömmling eines halbes Dutzend mal erschossen werden. Da die Befestigungen des OKH Mauerwald nicht gesprengt wurden, stehen heute am Mauersee die besterhaltenen Anlagen des Zweiten Weltkrieges. Ein privates Museum hat einige Bunker mit lebensgroßen Puppen in bizarren Szenerien ausstaffiert. In oberirdischen Ausstellungsräumen ist alles zusammengemengt, was Staunen erregt, von der V2 über die Hanebuscheibe bis zum Horten-Nurflügler.

Das eindrucksvollste Bauwerk jedoch liegt kurz vor Fürstenau am Rehsauer See. Die Bauruine einer von Philipp Holzmann und der Dywidag erbauten Schleuse des masurischen Kanals ragt wie eine babylonische Zikkurat aus dem Wald. Auf einem Hochseil kann gegen Eintrittsgeld zur Kante der oberen Schleuse balanciert werden. Innen steht das Wasser, und ein Kahn liegt angebunden. Kaum jemand macht sich die Mühe, von der ansteigenden Böschung hinter dem unvollendeten Koloß auf den vom Mauersee herlaufenden Kanal zu blicken, um den Sinn der Anlage zu bedenken. 

Angerburg vermittelt einen tristen Eindruck. Der Hauptplatz ist lückenlos von Plattenbauten eingefaßt. Vor der Kirche weist ein schräg ansteigender Platz die alte dekorative Pflasterung mit verschiedenfarbigen Flußkieseln auf. Weit erfreulicher wirkt Goldap, der einzige anerkannte Kurort der Provinz. Das Stadtbild stellt keine Brüche aus, sondern gibt Beispiele zu deren Heilung. Der Wechsel zwischen Altbauten (vor den Zerstörungen von 1914/15), den Neubauten aus der Zwischenkriegszeit und denen aus der sozialistischen Ära und der neuesten Zeit ist nur bei genauem Hinsehen wahrzunehmen. Nur einmal im Leben verreiste Immanuel Kant, als der Garnisonshauptmann der Schwarzen Husaren, Friedrich von Lossow, ihn nach Goldap eingeladen hatte. Ein wuchtiger Steinbogen mit dem Namen des Philosophen erinnert daran.

Gräber und eine Stele für die 1914 Gefallenen

Durch den Goldaper See im Norden der Stadt verläuft die Grenze zum Königsberger Distrikt. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Goldap von den Russen verwüstet, dann wieder aufgebaut, Ende Oktober 1944 wird die geräumte Stadt abermals von ihnen eingenommen und gebrandschatzt, vierzehn Tage darauf von der Wehrmacht zurückerobert und immerhin noch bis Januar 1945 gehalten. Auf dem alten evangelischen Friedhof stehen zehn Gräber von Königlich-Sächsischen Gardereitern, die am 10. September 1914 in der Schlacht an den Masurischen Seen fielen. Neben den einfachen Steinen der Reiter erhebt sich eine große Sandsteinstele mit den zugleich gefallenen Offizieren Einsiedel, Lippe-Biesterfeld-Weißenfeld, Hohenthal und Bergen sowie Boxberg. Darauf prangen die vergoldeten Initialen FAR für Fridericus Augustus Rex. 

Der alte Hausberg von Goldap wurde auch der Goldaper Kalender genannt, weil er als Wetterorakel diente. Der Steppenberg läuft in einer Doppelspitze aus. Ein Privatbesitzer hat ihn in einen Freizeitpark mit Sommerrodelbahn, Kletterwald und Dauerbeschallung verwandelt. Ein Lift führt zu einem Drehrestaurant. Vor Jahrhunderten sollen die Pruzzen auch von dieser Anhöhe den deutschen Rittern getrotzt haben. 

In einem einzeln liegenden Gehöft in Pietronken bei Kruklanken sind wir bei Dagebliebenen zu Gast. Bauer Lange geht auf die achtzig zu. Er hat es mit dem Bruder nicht mehr über das Haff geschafft. Später übernahm er als Kleinbauer den Hof des Vaters und war eine Zeitlang zweiter Vorsitzender der deutschen Minderheit. Bis vor einigen Jahren züchtete er noch Pferde. Doch die Pferdenarren blieben aus, wegen des „Dreckszeugs“, wie Herr Lange die neumodischen elektronischen Spielereien nennt. Ihm genügt ein Taschenrechner, und wer eine Übernachtung wünscht, der kann das mit seiner Frau am Telefon vereinbaren. Hundertvierzig Rinder stehen auf der Weide, davon siebzig Milchkühe. Im Insthaus sind wie in alten Zeiten sechs polnische Arbeiter untergebracht. Des Morgens begleiten wir ihn auf seiner täglichen Rundfahrt über die Weiden; in weiten Schleifen preschen wir im Geländewagen durch die Bullenherde.  

In aller Frühe machen wir uns auf die Rückreise. Im Vorbeifahren erblicken wir die Türme der Residenz der ermländischen Bischöfe in Rössel. An der Wallfahrtskirche Heiligenlinde halten wir. In Reichertswalde hatte sich ein Zweig des sächsischen Geschlechtes von Dohna erhalten, die um 1400 in der Dohnaischen Burgfehde ihren Einfluß in der Mark Meißen an die Wettiner verloren. Das Schloß Mohrungen und einige Güter der Umgebung waren Eigentum derer von Dohna-Lauck. Der Wiese um den Weeskeniter See verleiht ein solitärer Baumriese die Wirkung eines Landschaftsparks. In Mohrungen wurde der Dichter Johann Gottfried Herder geboren. An unzähligen Storchennestern entlang finden wir langsam aus Ostpreußen heraus und rollen rascher über die gebührenpflichtigen Autobahnen. Am Ufer der Nogat gegenüber der Marienburg halten wir noch einmal kurz. Dann geht unsere Fahrt zügig heimwärts.