© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/18 / 06. April 2018

Nur fließende Übergänge
Vom „guten“ Patriotismus zum „bösen“ Nationalismus: Der Historiker Christian König betet alte Thesen zur „konstruierten Nation“ nach
Oliver Busch

Ein annus mirabilis der Nationalismusforschung, frohlockte einst Hans-Ulrich Wehler, sei das Jahr 1983 gewesen. Weil der Bielefelder Protagonist eines „Nation“ durch „Gesellschaft“ ersetzenden historiographischen Paradigmenwechsels seine der „Charakterwäsche“ (Caspar von Schrenck-Notzing) verpflichtete politische Pädagogik gleich durch drei Publikationen bestätigt sah. 1983 hatten Benedict Anderson („Imagined Communities“), Ernest Gellner („Nations and Nationalism“) und, als Herausgeber einer Aufsatzsammlung, der Neomarxist Eric J. Hobsbawm („The Invention of Tradition“) unisono die Nation als vermeintliche „Konstruktion“ entlarvt.

Konstruktion der Nation als „Kampfgemeinschaft“ 

Da viel dunkle Materie das Gedächtnis bundesdeutscher Historiker löchert, verkannten Wehler & Co., daß sie etwas als Offenbarung aus dem „Westen“ empfingen, was spätestens in der Weimarer Republik ihren Altvorderen nicht nur als Gemeinplatz galt, sondern was damals als gesunkenes Kulturgut bereits die politische Publizistik infiltrierte. Daher entging diesen sich penetrant als „kritisch“ gerierenden Akademikern, daß ihre angelsächsischen Kollegen lediglich den Zeitgeist der heraufziehenden Globalisierung orchestrierten. Sah doch der von Margaret Thatcher und Ronald Reagan exekutierte Neoliberalismus in Nationen nur lästige Hindernisse für grenzenlose „Märkte“. 

Da kam eine Anschauung gerade recht, die Nationen als Erfindungen begriff, die, wie die Religionen für die Aufklärer des 18. Jahrhunderts, auf „Priesterbetrug“ beruhten. Die seitdem explodierte Nationalismusforschung ist seit drei Jahrzehnten bemüht, diese Konstruktionsthese im Detail zu untermauern, um nachzuweisen, daß eine auf „Betrug“ beruhende Sozialordnung, die Einheit im Innern nur erstrebt, um sich als „Kampfgemeinschaft“ zu formieren und aggressiv nach außen auszugreifen, nicht lebenswert ist und deshalb nicht zukunftsfähig sein kann. 

Christian M. König, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Regensburger Lehrstuhl für Neuere Geschichte, blendet diese Koinzidenz zwischen militanter Nationalismus-Kritik und der Startphase des Marktradikalismus aus. Also zieht er die triviale, scheinbar innovative angelsächsische Variante der Theorie von der „konstruierten“ Nation gar nicht erst in Zweifel. Für die weit vor das frühe 18. Jahrhundert zurückverfolgbare Genese kollektiver, nationaler Identität bleibt ihm vielmehr allein das Verhältnis von Nationalismus und Patriotismus noch zu klären (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 12/2017). Nicht zuletzt deswegen, weil das Verständnis von Patriotismus seit den 1980ern unter geschichtspolitischen Irritationen gelitten habe, da „böse“ Kontinuitäten den „guten“ Verfassungspatriotismus des Status-quo-Apologeten Jürgen Habermas belasteten. Denn Wehler und – bedenkenloser – Heinrich-August Winkler unterschieden einen tendenziell aufgeklärten, emanzipatorischen, friedlichen Patriotismus von einem reaktionären, chauvinistischen, aggressiven Nationalismus.

Politisch attraktiv mutete diese Gut-Böse-Dichotomie an, weil sie schon in der Bonner Republik den Appell ans deutsche Zusammengehörigkeitsgefühl „jenseits des im 20. Jahrhundert gründlich diskreditierten Nationalismus“ ermöglichte. Als karrierebewußter Nachwuchshistoriker hätte König seine vergangenheitspolitischen Lektionen schlecht eingepaukt, befeuerte ihn nicht der Ehrgeiz, auch den ursprünglich kosmopolitisch ambitionierten Patriotismus als genauso tonnenschwer moralisch „belastet“ zu präsentieren wie den Nationalismus. 

Ein Erkenntnisgewinn ist damit allerdings nicht verbunden, da Königs These, zwischen Patriotismus und Nationalismus seien die Übergänge fließend, inzwischen Konsens ist. Kein Streit herrscht auch bezüglich seiner Ansicht, daß patriotisch gesinnte Funktionseliten, eine winzige intellektuelle Avantgarde, die Masse des Volkes zunächst als reines Objekt der Aufklärung und Erziehung zu höherer Menschlichkeit betrachteten. Ebenso außer Frage steht, daß diese „In-Group“ elitärer Patrioten sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts um Bürger, Handwerker, Bauern erweiterte, bis der Kreis der Vaterlandsfreunde, rechtzeitig zu Beginn der Befreiungskriege gegen Napoleon, schließlich alle Deutschen einbezog. 

Nation als rein „negative“ Integrationsideologie 

Welche konkreten Motive und Faktoren diesen langen Prozeß der Nationsbildung beeinflußten, interessiert König nicht, weil deren Berücksichtigung seine dem üblichen Muster adäquate Konstruktion der „Konstruktion“ zerstören würde, der zufolge Nationalismus als rein „negative“ Integrationsideologie politische und soziale Differenzen verschleiert, um innere Spannungen „chauvinistisch“ nach außen abzulenken. 

Je mehr sich die ideelle Vergemeinschaftung als „Selbstdefinition durch Feindmarkierung“ zur „Konstante deutscher Identität“ (Hagen Schulze) verfestigte, desto weniger bedurfte es der realen, „sozialreformerischen Aufhebung faktisch vorhandener Ungleichheit“. Hier weise daher das „nationale Programm eine bezeichnende Leerstelle“ auf. Was jedoch nur dann plausibel klingt, wenn man wie König ausblendet, daß etwa die nationale Mobilisierung von 1813 nur gelang, weil ihr die Stein-Hardenbergschen Reformen vorausgegangen waren und nach dem Sieg der nationale Verfassungsstaat lockte. Und ebensowenig wies der wilhelminische Reichsnationalismus eine „Leerstelle“ auf, weil er primär nicht mittels „Feindbildern“, sondern mittels Bismarcks Sozialgesetzgebung integrierte.