© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

Ländersache: Sachsen-Anhalt
Kita, Koffer, Coming-out
Christian Vollradt

Ein Kindergartenerzieher verliebt sich in eine Bauarbeiterin. Wie oft dies in Sachsen-Anhalt passiert, ist statistisch nicht nachgewiesen. Aus dem fiktiven Land „Andersrum“ ist ein solcher Fall jedoch aktenkundig, notiert im Buch „Keine Angst in Andersrum – Eine Geschichte vom anderen Ufer“ des Travestiekünstlers Oliver Knöbel, besser bekannt unter dem Künstlernamen Olivia Jones. Weil das Buch einen „altersgerechten Zugang zum Thema Ausgrenzung und Toleranz“ biete, gehört es in den Medienkoffer, der in dem Bundesland ab dieser Woche von Kindertagesstätten (Kitas) und Grundschulen für drei bis vier Wochen ausgeliehen werden kann.

Der sogenannte „Kita-Koffer“ soll für mehr Akzeptanz für sexuelle Minderheiten werben. Die Einrichtungen sollen angeregt werden, „über den Tellerrand zu schauen, was es neben dem tradierten Familienbegriff – Vater, Mutter, Kind – noch für Familienmodelle gebe. „Wir wollen den Normalitäts-Begriff ein Stück weit hinterfragen“, teilte die Geschäftsführerin des federführenden Kompetenzzentrums für geschlechtergerechte Jugendhilfe, Kerstin Schumann, mit: „Unser Anliegen ist es, daß sich Kinder akzeptiert fühlen – egal wie sie sind.“ Außer den 19 Kinderbüchern für Drei- bis Siebenjährige sowie Spielen enthält der Koffer auch Fachbücher für Erzieher und Lehrer. Kostenpunkt pro Koffer: 500 Euro. 

Das Vorhaben ist Teil eines „Aktionsplans“. Den läßt sich die schwarz-rot-grüne Landesregierung insgesamt 50.000 Euro kosten. Denn „eine bedarfsgerechte Pädagogik muß dem Wandel Rechnung tragen, indem Unterschiede und Gemeinsamkeiten der vielfältigen Familienkonstellationen professionell vermittelt werden“, meint die Ministerin für Justiz und Gleichstellung, Anne-Marie Keding (CDU). Geerbt hat sie das Projekt von ihrer Vorgängerin Angela Kolb (SPD). Und eigentlich hätte der „Kita-Koffer“ schon vor einem Jahr an den Start gehen sollen (JF 3/16). Ziel sei es, so heißt es im Aktionsplan, die „Mitarbeiter_innen der Elementarbildung in Sachsen-Anhalt“ für den Umgang „vor allem im Hinblick auf gendervariante, transgender, transsexuelle und intergeschlechtliche Kinder sowie Regenbogenfamilien“ zu sensibilisieren. 

Für besonders wichtig halten die Initiatoren des Aktionsplans den Weg in die Kitas aber vor allem, „wenn bedacht wird, daß Kinder, die sich im Alter von 3 bis 6 Jahren womöglich noch nicht für Fragen rund um Sexualität und sexuelle Orientierung interessieren, sich später als Heranwachsende gleichgeschlechtlich orientieren können.“ Ein „späteres Coming-out“ könnte ihnen leichter fallen, „wenn sie sich schon vom Besuch der Kindertageseinrichtung an willkommen gefühlt haben“. 

Für die AfD-Fraktion in Magdeburg sagte eine Sprecherin der JUNGEN FREIHEIT, man werde sich genau anschauen, welche Literatur im „Kita-Koffer“ enthalten sei und bei Bedarf kritisch nachhaken. Bereits 2016 hatte sich die AfD für das Recht jedes Kindes ausgeprochen, „vor Frühsexualisierung geschützt zu werden“. Kinder seien schließlich „keine jungen Erwachsenen“. Kerstin Schumann vom Kompetenzzentrum hofft dagegen auf eine Ausweitung: „Zwei Koffer für mehr als 1.000 Kitas im Land sind eigentlich viel zuwenig.“ Ziel sei es, „für jeden Landkreis einen Koffer zu haben“.