© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

„Wir wollen die Herrschaft des Rechts“
Befremdet von der Beschädigung: Aus der „Erklärung 2018“ soll eine Massenpetition an den Bundestag werden
Mathias Pellack

Frau Lengsfeld, waren Sie überrascht von den vielen Unterzeichnern der Petition zur „Gemeinsamen Erklärung 2018“?

Vera Lengsfeld: Nein. Wenn wir die Liste von Anfang an für alle öffentlich gemacht hätten, wäre genau das eingetreten, was jetzt passiert. Die Leute hätten sich massenhaft eingetragen. Wir haben am Sonntag die 100.000 geknackt. Wir werden heute am Dienstag 115.000 sein. 

Das Ziel, das Sie mit der Petition erreichen wollen ...

Lengsfeld: ... das ist doch ganz klar! Wir wollen die Wiederherstellung der Gesetzlichkeit an den deutschen Grenzen. Punkt.

Die CDU hat im Wahlkampf versprochen: „Bis der Schutz der EU-Außengrenzen funktioniert, halten wir an Binnengrenzkontrollen fest.“ Finden Sie, die Union hat dieses Wahlversprechen bisher gehalten?

Lengsfeld: Diese Grenzkontrollen sind, wie es neudeutsch heißt, ein Fake! Denn es werden nach wie vor Leute ohne Paß und Ausweis ins Land gelassen. Die Zahl der illegalen Einwanderer ohne Papiere ist von der Bundespolizei für 2015 auf 55.000 geschätzt worden. Und diese hat hinzugesetzt, die Dunkelziffer sei noch höher. Die Behauptung, Grenzkontrollen durchzuführen, ist unter diesen Umständen also schlicht eine Irreführung der Bevölkerung.

Warum versucht die Bundesregierung, die Wähler derart irrezuleiten?

Lengsfeld: Das kann ich nicht wissen. Eine Rolle spielt, daß gemachte Fehler nicht zugegeben, sondern vertuscht werden sollen.

Vor zwei Wochen erschien eine Gegenerklärung namens „Unsere Antwort für Demokratie und Menschenrechte“.

Lengsfeld: Die habe ich nicht zur Kenntnis genommen.

Geschätzt die Hälfte der etwa 4.000 Unterzeichner der Gegenerklärung kommen aus dem Literaturbetrieb – sind also Autoren, Lektoren, Schriftsteller, Verleger und Journalisten et cetera. Wen repräsentieren diese Unterzeichner?

Lengsfeld:  Sie bilden den linken Mainstream ab. Wir sind die Mitte der Gesellschaft.

Die Initiatoren der „Antwort“ schreiben im „Freitag“, Ihre Erklärung sei „eine politische Provokation und auch als solche gedacht“. Ist es das, was Sie wollen? Eine Debatte anregen?

Lengsfeld: Das erinnert fatal an die DDR. Da war jede Beschreibung der Realität eine Provokation und diente dem Klassenfeind.

Sie sprechen auf Ihrer eigenen Neztseite auch die Friedliche Revolution 1989 an. Welche Parallelen sehen Sie zu unserer heutigen Zeit?

Lengsfeld: Es wird sich nur etwas ändern, wenn sich genügend Bürger bereit finden, um der Regierung die Legitimation zu entziehen. Und genau das ist die Parallele. Nur wenn alle, die dieses Unrecht an der Grenze stoppen wollen, aufstehen und sagen, wir wollen wieder die Herrschaft des Rechts und nicht mehr die Willkür der Politik, nur dann wird sich wirklich etwas ändern.

Glauben Sie, es ist wieder soweit? Fühlen Sie diese „Wende-Stimmung“ heute wieder?

Lengsfeld: Geschichte wiederholt sich ja nicht einfach.

Wie meinen Sie das?

Lengsfeld: Das gemeinsame Deutschland scheint sehr viel ängstlicher zu sein, als ich die DDR je wahrgenommen habe.

Die DDR-Bevölkerung haben Sie als weniger ängstlich in Erinnerung? Das erstaunt mich, da wir heute doch keine Stasi haben.

Lengsfeld: Ja. Ganz definitiv. Die Stasi war etwas von außerhalb. In der Familie und unter Freunden fühlte man sich sicher. Damals ging auch der Riß nicht so durch die Familien und Freundschaften, wie es heute ganz offensichtlich der Fall ist. Und es gab jede Menge Witze über die DDR-Regierung. Ich kenne keine Witze über diese Regierung.

Glauben Sie, nun mit der „Erklärung“ etwas bewegen zu können?

Lengsfeld: Ich merke, daß für viele Menschen unsere Erklärung das Signal war, daß doch etwas passiert. Das könnte der Anfang einer tiefgreifenden politischen Veränderung sein.

Nachdem Sie 1990 Mitglied der ersten freigewählten Volkammer waren und anschließend in den Bundestag eingezogen sind, wechselten Sie 1996 von den Grünen zur CDU. Sie sind selbst noch immer CDU-Mitglied, richtig?

Lengsfeld: Ja.

Man würde erwarten, daß Sie aus der CDU austreten, wenn Sie so unzufrieden mit der Politik der Regierung sind.

Lengsfeld: Das können Sie ja erwarten. (lacht) Das mache ich aber nicht.

Warum bleiben Sie?

Lengsfeld: Das ist meine Privatsache. Da muß ich keine öffentliche Rechenschaft ablegen.

Aus Ihrer Zeit als Abgeordnete in der DDR und im Anschluß bis 2005 als Mitglied des Deutschen Bundestags – was sind da ihre wichtigsten politischen Erinnerungen und Ereignisse? 

Lengsfeld: Ganz klar, daß es uns als kleine Bundestagsgruppe – wir waren damals acht Leute beim Bündnis 90/Die Grünen – gelungen ist, die Öffnung der Stasi-Akten gegen den Willen der Regierungskoalition durchzusetzen. Mit den acht haben wir es damals geschafft, die Mehrheit dafür zu gewinnen, diese Veröffentlichung tatsächlich durchzusetzen. Das ist unser allergrößter Erfolg gewesen.

Bevor Sie in die Politik gingen, haben Sie bereits 1981 den „Friedenskreis Pankow“ mitbegründet. Was war das für ein Kreis? 

Lengsfeld: Das war der erste legal arbeitende Oppositionskreis in der DDR. Wir haben uns gegen die Stationierung von sowjetischen Atomraketen auf dem Gebiet der DDR ausgesprochen.

Das haben Sie als Unrecht angesehen?

Lengsfeld: Als lebensgefährlich! Atomraketen rechts und links der innerdeutschen Grenze! Das hieße, bei einem möglichen Atomkrieg wäre Deutschland der Kriegsschauplatz gewesen. Für eine Mutter mit kleinen Kindern war das kein angenehmer Gedanke. 

Und so haben Sie nach Möglichkeiten gesucht, politisch Widerstand zu leisten?

Lengsfeld: Vielen anderen ging es auch so, und deshalb haben wir den Friedenskreis gegründet. Überall in der DDR wurden Anfang der achtziger Jahre solche Kreise gegründet. Das war der Ursprung der unabhängigen Friedens- und Umweltbewegung, von der im Herbst 1989 die Friedliche Revolution ausging.






Eine Erklärung in den Iden des März

Am 15. März ging die frühere DDR-Bürgerrechtlerin und ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld mit einer fünfzeiligen „Erklärung 2018“ an die Öffentlichkeit, die sich gegen die illegale Masseneinwanderung richtet und sich mit denen solidarisiert, die friedlich für die Wiederherstellung der rechtsstaatlichen Ordnung an den deutschen Grenzen demonstrieren. Zu den 34 Erstunterzeichnern gehören Henryk M. Broder, Thilo Sarrazin, Uwe Tellkamp, Matthias Matussek, Michael Klonovsky, Frank Böckelmann sowie weitere Publizisten, Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler. Nachdem 2.018 Personen unterschrieben hatten, wurde die Liste für jedermann geöffnet („Gemeinsame Erklärung“) und der Text um die Forderung erweitert, der Bundestag möge die „Kontrolle der Grenzen gegen das illegale Betreten des deutschen Staatsgebietes“ wiederherstellen. Die Unterschriften sollen zu einem späteren Zeitpunkt beim Petitionsausschuß des Bundestages eingereicht werden. Nach den Richtlinien zum Ablauf des Petitionsverfahrens ist es dazu allerdings erforderlich, bei öffentlichen Petitionen von allgemeinem Belang, die auf elektronischem Wege erfolgen, die offiziellen Internet-Formulare zu verwenden.

Die als Gegen-Erklärung konzipierte „Antwort 2018“ präsentiert den knappen Text: „Die Menschenrechte enden an keiner Grenze dieser Welt. Wir solidarisieren uns mit allen Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Armut in unserem Land Zuflucht suchen, und wenden uns gegen jede Ausgrenzung.“ Sie wurde von dem Autor und Jugendkulturforscher Klaus Farin initiiert und von zunächst 21 überwiegend Berliner Schriftstellern unterzeichnet, darunter Christoph Links, Zoë Beck, Katharina Körting und Carlos Collado Seidel. Inzwischen haben etwa 4.000 weitere Kulturschaffende unterschrieben.





Zitate

„Zeigt sich da ein neuer, kämpferischer Konservatismus?“

Christian Schröder, Redakteur, Der Tagesspiegel (online), 9. April

„Insgesamt stellen die mehr als 100.000 Unterzeichner eine Mischung dar, auf die jede Volkspartei stolz wäre. Das wird die einschlägigen Bessermeiner nicht davon abhalten, weiter mit Begriffsstanzen wie „Abgehängte“ vor sich hinzuspinnen (...). Der Punkt ist nur: Wer hört diesen Volkserziehern eigentlich zu, denen das Leser-, Wähler- und sonstige Volk wegläuft? Wenn es im Deutschland des Frühjahrs 2018 ein rapide zerfallendes Milieu gibt, dann ist es das der politisch Korrekten. Praktisch alles, was sie bisher als Abwehrtexte gegen die „Erklärung 2018“ zustande gebracht hatten, fällt unter die Rubrik: therapeutisches Selbstgespräch.“

Alexander Wendt, Publicomag.de, 8. April

„In der selbstherrlich so genannten ‘gemeinsamen Erklärung 2018’ meldeten sich Intellektuelle zu Wort, und sie behaupten, Deutschland würde, Zitat: durch illegale Masseneinwanderung beschädigt. Natürlich wissen diese Leute selbst, das ist absurd, aber es geht hier ja nicht um Tatsachen, sondern um Suggestion. Alternative Fakten werden einfach so lange penetrant behauptet, bis sich immer mehr Menschen bedroht fühlen, irgendwie (...).“

Max Moor, Moderator, in „ttt – Titel, Thesen, Temperamente“, Das Erste, 8. April

„Darum wäre eine Debatte über die ‘Gemeinsame Erklärung 2018’ für die von ihr attackierte Bundeskanzlerin eine Chance, die Leerstelle zu füllen, die sie seit dem Herbst 2015 hat entstehen lassen.“

Lothar Müller, Redakteur, Süddeutsche Zeitung, 5. April

„Was als konservatives Aufbegehren begann, sogar als Wortmeldung konservativer Intellektueller für eine überfällige Debatte jenseits lähmender politischer Korrektheit gedeutet werden konnte, ist im Getümmel wutschnaubender Mitbürger gelandet.“

Ernst Elitz, Autor, Cicero (online), 3. April

„Schaut man sich die Liste der 32 Erstunterzeichner an, stellt man fest, daß vorsichtig gerechnet mindestens ein Drittel von ihnen bekannte, vielerorts publizierende Autoren, Schriftsteller oder Chefredakteure sind. Sie können problemlos immer sagen, was sie wollen. Die meisten der Unterzeichner haben ihre zum Teil großen Resonanzräume. (...)Doch so einfach möchte ich es mir nicht machen. Denn es stellt sich schon die Frage, warum diese zu einem beträchtlichen Teil intelligenten Menschen zu einer solchen Position gekommen sind. Treffen sie einen Punkt? Ja. (…) Einwanderung schafft aber neben Positivem fast immer auch gewaltige Probleme, Einwanderung kann scheitern und Gesellschaften beschädigen. Wer das heute noch für eine quantité négligeable hält, hat wenig verstanden, verhält sich unverantwortlich. Hinter dem bedingungslosen, fraglosen Ja zur Einwanderung steht nicht menschenfreundlicher Kosmopolitismus, sondern eine besonders häßliche Form linksliberaler Hartherzigkeit.“

Thomas Schmid, Die Welt, 2. April

„Ab in den Gulag! (...) Aber wenn wir jetzt hart durchgreifen, dann ist Deutschland vielleicht noch nicht in den rechten Brunnen gefallen. Erscheinen Sie deshalb bitte zahlreich zu den öffentlichen Erschießungen!“

Andreas Koristka, Redakteur, Neues Deutschland, 20. März

„Diese Leute reden vom Rechtsstaat – in Wahrheit wollen sie den Rechtsruck. Vornweg laufen die üblichen Verdächtigen (...). Und dann kommen lauter erzürnte Professores und Doctores, die saure Crème de la Crème des besorgten deutschen Bürgertums. Die können keine mildernden Umstände für sich geltend machen (...), die wissen genau, was sie tun: sie wollen das muslimreine Deutschland.“

Jakob Augstein, Spiegel Online, 19. März