© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

Folgen eisiger Lebenswillkür
Kino: Christian Alvarts „Steig. Nicht. Aus!“ mit Wotan Wilke Möhring ist eine Umverfilmung von „Anrufer unbekannt“
Sebastian Hennig

Der Tatort-Regisseur Christian Alvart hat den Thriller „Anrufer unbekannt“ (2015) seines spanischen Altersgenossen Dani de la Torre noch einmal gedreht. Dessen gnadenlose Höllenfahrt wendet er zu einer heilsamen Familienaufstellung. „Steig. Nicht. Aus!“ ist nämlich eher eine deutsche Umverfilmung als eine Neuverfilmung. Alvart meint: „Ich fand, daß er vom Konzept, der Idee und dem Drehbuch für Spanien ganz großartig funktioniert hat, aber für ein deutsches Publikum eine emotionale Komponente fehlte.“ Also dichtete er das Geschehen so um, daß sich das Publikum hierzulande einen Vers darauf machen kann.

Das Original reagierte auf die Auswirkungen der Bankenkrise. Im Mittelpunkt steht ein skrupelloser Bankier, dessen Auto samt seinen Kindern sich in eine durch einen Erpresser über Funktelefon gesteuerte Lenkwaffe verwandelt. Anstelle des spanischen Macho Luis Tosar steht der deutsche Softie Wotan Wilke Möhring. Der ist verkniffen und sentimental. Das wirkt insgesamt so zutreffend, daß er damit tatsächlich die Empathie des Zuschauers weckt.

Karl Brendt (Wotan Wilke Möhring) ist ein Berliner Bauunternehmer. Er wird zum Werkzeug der Rache für einen Erpresser und löscht damit alles aus, was er zuvor bewirkte, aber auch die hilflose Beziehungslosigkeit zu Frau und Kindern. Zum Filmschluß holt einige Jahre später Frau Brendt (Christiane Paul) mit den beiden Kindern Josefine (Emily Kusche) und Marius (Carlo Thoma) den Papa Karl am Gefängnistor ab. Die 16jährige Emily Kusche debütierte mit zehn Jahren als Marie in „Das kleine Gespenst“. Das Mädchen aus dem Prenzlauer Berg wurde schon im Grundschulalter für Werbespots abgelichtet. Auch der Filmbruder ist ein solches zehnjähriges Musterkind der kreativen Szene. Seine Mutter Lilian Thoma ist die Autorin so programmatisch klingender Titel wie „Wer hat Angst vorm zweiten Mann?“ Über seine Zusammenarbeit mit Wotan Wilke Möhring sagt der Regisseur: „Es war wirklich wie einen alten Hausschuh anziehen.“ In Alvarts erstem großen Kinofilm „Antikörper“ (2005) hatte Möhring zugleich seine erste Titelrolle.

„Steig. Nicht. Aus!“ ist ein Fernsehspiel für das Kino. Zu Beginn steht die hinter gepflegter Fassade verrottende Existenz. Mit kleinen Korrekturen will Brendt es wieder ins Lot bringen. Nur eine völlige Umkehr, eine wörtliche Katastrophe, kann ihn retten. Als der erste Sprengsatz im Auto des Kollegen Omar (Fahri Yardim) detoniert, weil dessen Frau (Mavie Hörbiger) die Warnung nicht ernst nimmt, stellt die Tochter die Frage, deren Antwort sie ahnt: „Warum passiert uns das?“

Alvart hält den Gesichtsverlust der Städte durch Bauspekulation zwar für verheerend, findet aber auch, „daß es Protestlern sehr oft um reine Nostalgie und Besitzstandwahrung geht. Man möchte also eigentlich, daß sich gar nichts mehr verändert, aber das darf auch nicht sein.“ Er hat den Taupunkt der Handlung ins Persönliche verlegt, wo keine Dämmung durch Geld und erzwungenen Erfolg die Hitze des Begehrens vor den inneren Folgen einer eisigen Lebenswillkür bewahren kann. Zu einer klärenden Aussprache und Bereinigung der Verhältnisse ist es allerdings zu spät.

Jetzt entlädt sich die angestaute Ener-gie. Spätestens als sich der Polizeihubschrauber mitten auf dem Gendarmenmarkt vor die Windschutzscheibe von Brendts Fahrzeug herabsenkt ist die Wendung zum Actionfilm klar. Die ikonische Gewalt der Bilder ist direkt aus dem Original übernommen. Berlins Geräumigkeit gibt einiges dafür her. Es geht gleich zweimal die Frankfurter Allee hinauf und hinunter. Unter einer Brücke dreht gerade dekorativ ein Frachtschiff. Die Kamera steht gleichfalls nicht still. Sie kreist um die im eifrigen Wortgefecht begriffenen Personen.

Jede Möglichkeit für effektvolle Bilder wird genutzt. Die Leiterin der Kampfmittelberäumung Pia Zach (Hannah Herzsprung) tapert im unförmigen Schutzanzug auf das festgesetzte Auto zu. Dabei wird die feinsinnige Frau von ihrem instinktlos brutalen Kriminalkollegen überrannt. Es gibt mächtig Zoff auf dem Dienstweg.

Brendt, der über die Tochter inzwischen erfahren hat, daß es seine Ehe eigentlich nicht mehr gibt, arbeitet fieberhaft daran, das verlangte Geld freizubekommen. Dafür wird eine virtuelle Gesellschafterversammlung einberufen. Er spürt, wie die selbst angewandten Praktiken sich nun gegen ihn richten: „Ich habe 17 Jahre für euch gearbeitet.“ Diese Anspruchswahrung vermag er jedoch nicht durchzusetzen. Letztlich kompromittiert Brendt sich und seine Teilhaber und Kollegen, erledigt die Firma. Damit wird er unwissentlich zum Vollstrecker des Plans seines Erpressers, der am Ende persönlich in Erscheinung tritt. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“ Als die Scharfschützen ihn schon im Visier haben, beginnt sich auf einmal wieder eine Familie um ihn zu bilden. Diese Wendung ist entscheidend dafür, daß Alvarts Film ein eigenes Werk ist und kein Wiedergänger seiner Vorlage. Rein handwerklich ist der Film perfekt. Er verdampft rückstandslos, und das vergleichsweise beschauliche Ende gehört eher zu seinen Stärken.