© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

Hat unsere Gesellschaft kollektiv Alzheimer?
Verlust kultureller Identität
Ludwig Witzani

Eine der existentiellen Schrecken, die im Alter auf den Menschen warten kann, ist die Alzheimer-Erkrankung. Dabei handelt es sich um einen irreversiblen neurodegenerativen Auflösungsprozeß, in dessen Verlauf die geistigen Funktionen des Erkrankten schrittweise verlöschen. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Formen und Stadien führt sie zu einer vollständigen Depersonalisierung, weil der Erkrankte alles, was ihn als Menschen und Person definierte, seine Werte, Fähigkeiten und Erinnerungen, „verliert“. Man „läuft“ gleichsam aus wie ein undichter Eimer, bis man „leer“ ist, beschrieb ein Neuropathologe diesen unumkehrbaren Vernichtungsprozeß. Der Hollywood-Film „Still Alice“ mit Julianne Moore in der Hauptrolle hat eine solche Erkrankung und ihren Verlauf in ergreifender Weise dargestellt. „Ich verliere mich“, sagt die Protagonistin an einer Stelle, als sie erklären will, was mit ihr vorgeht. Kein Geringerer als der amerikanische Ex-Präsident Ronald Reagan hat sich in der Frühphase sei-ner Alzheimer-Erkrankung von seinen Mitbürgern verabschiedet, ehe er sich in der ewigen Nacht des vollständigen Vergessens verlor.

Das Gegenteil von „sich verlieren“ ist „sich behalten“, „sich seiner selbst gewiß sein“, Identität besitzen und ausleben. Vom Mythos über die Dichtung bis zur Kunst existieren kulturelle Prozeduren, mit denen der einzelne dem Verrinnen der Zeit und damit seines Lebens entgegentritt. Eine dieser zentralen Prozeduren, die dem Vergessen den Kampf ansagt, ist das Verfassen von Tagbüchern. Das Abfassen von Tagebüchern, schreibt Ernst Jünger in einem seiner Reisetagebücher, „bleibt eine Leistung von persönlichem und archivalischem Wert. Der Weg wird markiert.“ Mit anderen Worten, der Tagebuchschreiber vergegenwärtigt sich die Fülle seines Lebens dadurch, daß er immer aufs neue seine Gewordenheit lebendig macht. Über die im Tagebuch konstruierte Kontinuität bekräftigt er die Einheit seiner Identität auf der Ebene der Zeitlichkeit. Der sich selbst in seinen Tagebüchern und Reflexionen biographierende Mensch ist das genaue Gegenteil des Alzheimer-Erkrankten. Ein Geschenk, den Stift zur Hand nehmen und sich erinnern zu können.

Noch klarer und bedrückender wird diese Entgegensetzung von „Sich-Verlieren“ und „Sich-Behalten“, wenn man sie auf die kulturelle und kollektive Identität anwendet. Das kollektive Erinnern vollzieht sich im Mythos und zwar so, daß die ritualisierte Vergegenwärtigung dieses Mythos die Grenzen und die Lebenskraft eines Gemeinwesens definiert. Wohl dem Volk, das im Schatten eines Mythos lebend den Anfechtungen der Gegenwart entgegentreten kann. Es gehört jedoch zum Signum unserer Zeit, daß die europäischen Nationen, wenngleich in unterschiedlichem Maße, dabei sind, ihre Traditionen und damit ihre Identität zu verlieren.

Betrachtet man die zahlreichen Belege kultureller Selbstauflösung im Zusammenhang, ergibt sich ein erschreckender Befund: Die Gesamtheit des kulturellen Erbes scheint einem voll einverständlichen „Vergessen“ zu unterliegen.

Nicht nur einzelne kollektive Erinnerungen wie Gedenkstätten oder Straßennamen werden entsorgt, ganze Lebenswerke und Epochen werden zunehmend aus ihren geschichtlichen Kontexten herausgelöst und damit ihrer Bedeutung beraubt. Nur so ist zu verstehen, daß ein identitätsloses akademisches Proletariat imstande ist, Universitätsnamen, Volksfeste oder Bundeswehrkasernen umzudeuten.

Betrachtet man die zahlreichen Belege kultureller Selbstauflösung im Zusammenhang, ergibt sich ein erschreckender Befund: Die Gesamtheit des kulturellen Erbes scheint einem voll einverständlichen „Vergessen“ zu unterliegen. Ohne die Metapher überzustrapazieren, könnte man diesen Prozeß als eine Selbst-Alzheimerisierung der Gesellschaft bezeichnen. Wie beim erkrankten Individuum bricht über die gesellschaftliche Wirklichkeit ein Überwältigungsprozeß herein, an dessen Ende der Verlust der kulturellen Identität steht. Außengesteuert ist dieser Prozeß, weil die Institutionen, denen es obläge, Traditions- und Kulturpflege zu betreiben, diese Pflege nicht nur verweigern, sondern sich mit Enthusiasmus an ihrer Entsorgung beteiligen.

Die Beispiele für diese Selbst-Alzheimerisierung der kulturellen Identität sind Legion. Die seit Jahrzehnten in Deutschland gültigen Richtlinien für das Fach Geschichte basieren auf einer völligen Mißachtung der Chronologie und der Gewordenheit. Die Geschichte der eigenen Nation wird wie bei einer amerikanischen Fernsehserie zu einer sinnfreien Sequenz herabgewürdigt, bei der es völlig egal ist, bei welcher Staffel man sich einklinkt. Bei der Thema-tisierung von „Frauengeschichte“ oder „Revolution“ in der Sekundarstufe II wird die Geschichte zu einer Wurstdose, aus der heraus man sich die passenden Scheiben auf das selbstgeschmierte Butterbrot legt.

Eine bruchstückhafte „exemplarische“ Vergangenheit wird so zum Steinbruch einer fluiden Gewordenheit, der nichts Verpflichtendes mehr eignet, weil sie schon morgen ganz anders sein kann. Schlaglichtartig deutlich wurde der bereits eingetretene Geschichtsverlust in der grotesken Behauptung, die türkischen Gastarbeiter hätten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Daß man mit solchen Bildungsniveaus Bundestagsvizepräsidentin werden kann, ist im Rahmen des obwaltenden Kulturschwundes alles andere als erstaunlich.

Am Ende kann das „Sich-Verlieren“ so weit gehen, daß die Gesellschaft tatsächlich ihre Ursprünge völlig „vergißt“ und entweder von anderen Identitäten assimiliert wird oder sich selbst barbarisiert. So wie bei der individuellen Alzheimer-Erkrankung in einem fortgeschrittenen Stadium auch elementare Kulturtechniken und Hygiene zusammenbrechen, zeigen Gesellschaften, in denen sich eine Selbst-Alzheimerisierung vollzieht, erschreckende Anzeichen zivilisatorischer Niveauverluste. Die Beherrschung grundlegender Sprach- und Schreibkenntnisse, die pure Fähigkeit, einen Text fehlerfrei vorzulesen (geschweige denn, ihn zu verstehen), Impulskontrolle, Zeitperspektive und Frustrationstoleranz weichen einem grammatikalisch und sinnlogisch irrelevanten Daherplappern. Daß diese Schrumpf-Sprachen als „restringierte Codes“ oder „Kanak-Sprach“ auch noch „wissenschaftliche“ Würdigung erfahren, verwundert im Kontext der ablaufenden kulturellen Dekompositionsprozesse nicht wirklich. Von Drogenmißbrauch, der Zunahme unkontrollierter Kriminalität und sexueller Promiskuitivität in nahezu allen Altersstufen ganz zu schweigen.

Die Ablehnung der Nation als Ausdruck für eine kulturelle (nicht nur ethnisch geprägte) Schicksalsgemeinschaft geht so weit, daß nicht nur alle aus ihr ableitbaren Werthaltungen verworfen werden, sondern daß das Faktum selbst in Frage gestellt wird.

Aber handelt es sich bei dem in Deutschland nachweisbaren Zusammenbruch der kollektiven Identität tatsächlich um einen Fall von Vergessen? Sind denn die deutschen Verhältnisse nicht gerade durch ein Übermaß einer bestimmten Geschichte, eben der des Dritten Reiches, geprägt? Tatsächlich liegt über der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts der Schatten der nationalsozialistischen Untaten, die europaweit im deutschen Namen begangen wurden. Damit als Deutscher ins reine zu kommen ist eine Leistung, die enorme emotionale Ressourcen verschlingt – und der Verfasser bekennt, daß ihm das noch immer nicht gelungen ist.

Das öffentlich organisierte Gedenken an diese Verbrechen selbst hat aber inzwischen längst krankhafte Züge angenommen. Als ganz und gar habituelle und sinnentleerte, regelmäßig wiederkehrende Veranstaltung ist sie zu einem Instrument der Selbst-Exkulpation derer verkommen, die am lautesten die Untaten der Väter verurteilen. Das unvorstellbare Leiden der Juden unter dem Nationalsozialismus wurde zu einer Peitsche umfunktioniert, die am liebsten diejenigen gegen ihre Gegner schwingen, die ihren eigenen Antisemitismus nur mühsam verbergen können. Sozialpsychologisch gesprochen geht also die Selbst-Alzheimerisierung Deutschlands mit der Implementierung einer sinnentleerten Obsession einher, die ihre Kraft nicht zuletzt aus der fast völligen Abschaffung der geschichtlichen Bildung bezieht.

Als grundsätzliche Ablehnung des Begriffs der Nation als des Ausdrucks für eine kulturelle (nicht nur ethnisch geprägte) Schicksalsgemeinschaft ist diese Haltung inzwischen Teil des herrschenden Mainstreams geworden. Diese Ablehnung geht so weit, daß nicht nur alle aus ihr ableitbaren Werthaltungen verworfen werden, sondern daß das Faktum selbst in Frage gestellt wird. „Das eine Volk“, schrieb mir ein guter Freund, dem allerdings zugute zu halten ist, daß er bereits in Zeiten wie diesen aufwuchs, „wo gibt es das heute überhaupt, wo gab es das je, welche Probleme wurden durch eine Übersteigerung dieses Phantasmas je gelöst und nicht geschaffen?“ Für die einen ein „Phantasma“, für andere „schlicht nicht existent“, verschwindet die nationale Identität im Säurebad einer geschichtslosen Massengesellschaft. Wo so „argumentiert“ wird, brechen die gemeinsamen Brücken ein. Diejenigen, die noch auf den Resten ihrer kulturellen Identität bestehen, werden pathologisiert, weil sie Hirngespinsten hinterherliefen.

Bemerkenswerterweise wird dieser sich andeutende kollektive Kultur- und Identitätsverlust in vielen Science-Fiction-Szenarien ansatzweise erahnt. Gerade Dystopien wie „Die Tribute von Panem“, der Tom-Cruise-Film „Oblivion“ (2013) und andere setzen bei bereits verlorenen Identitäten an und entwickeln ihre Handlung als die Wiederentdeckung einer verlorenen Geschichte.

Spätestens an dieser Stelle erweist sich die Alzheimer-Metapher als begrenzt. Aus dem Abgrund einer individuellen Alzheimer-Erkrankung gibt es keine Wiederkehr. Wie es sich bei einem drohenden Totalverlust der kulturellen Identität verhält, bleibt abzuwarten.






Dr. Ludwig Witzani, Jahrgang 1950, ist Lehrer im höheren Schuldienst und Reisejournalist. Er verfaßte Reiseberichte für große Tageszeitungen und Journale wie die FAZ, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Kölner Stadt-Anzeiger, Merian und andere und veröffentlicht Reisebücher im epubli-Verlag, Berlin (über Tibet, Indien, Süd­amerika, Osteu­ropa, Indochina). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Parallelgesellschaften („Der Weg in den Bürgerkrieg“, JF 29/17).

Foto: Erinnerungsverlust und Depersonalisierung: Verlieren wir als Nation ähnlich wie an Alzheimer Erkrankte unsere Geschichte, kollektiven Erinnerungen und zivilisatorischen Errungenschaften?